Stellen Sie sich vor, zwei auf hohen Frequenzen rotierende Turbinen in Ihrem Kopf würden Ihren gesamten Tagesablauf bestimmen. Der ständige Lärm würde Sie dazu bringen, schreiend durch den Wald zu rennen oder stundenlang an einem Bach zu stehen, um dem Rauschen zuzuhören.

Unvorstellbar? Nicht für Hans A. Der 61-Jährige lebt seit neun Jahren mit Ohrgeräuschen, die ihn nachts nicht schlafen und während des Gesprächs immer wieder mit schmerzverzerrtem Gesicht zusammenzucken lassen. Bei einem Auffahrunfall erlitt der Familienvater 1997 ein schweres Schleudertrauma. Seither führt er ein Leben voller Einschränkungen, Schmerzen und Verzweiflung. Hans A. leidet unter einem chronischen Tinnitus. Die Turbinen in seinem Kopf drehen mal leiser, mal lauter, mal höher, mal tiefer. Doch sie stehen niemals still.

«Früher war ich ein fröhlicher Mensch», sagt er. Heute schluckt er Psychopharmaka. Die Familie leidet mit. Der Tinnitus macht ihn depressiv, aggressiv, führte zum sozialen Rückzug und zu Suizidgedanken – seinen Job musste er aufgeben. Die Turbinen beeinträchtigten seine Konzentration, er brauchte öfters Pausen und wurde von Kollegen für faul gehalten. «Der Tinnitus ist mein unsichtbarer Chef», sagt Hans A. Das ständige Dröhnen bestimmt, wann er aufsteht, ob er in der Lage ist, etwas zu unternehmen, die Waschmaschine auszuräumen oder ein Telefonat zu führen.

Hans A's Fall ist besonders schwerwiegend, doch allein ist er mit diesen Schmerzen nicht. Auch Alvin B. leidet seit sechs Jahren: «Mein Kopf ist voller Grillen, und manchmal verändern diese ihre Frequenz, wie wenn sie einen Gang höher schalten würden», beschreibt der 66-Jährige seinen Tinnitus.

Laut Schätzungen sind in der Schweiz bis zu einer Million Menschen von Ohrgeräuschen betroffen – 30'000 von ihnen so schwer, dass sie stationär behandelt werden müssen. Doch genau da beginnt das Problem: Tinnitus ist ein Symptom, dessen Ursachen bis heute nicht geklärt und individuell verschieden sind. In seltenen Fällen ist er die Folge einer Krankheit, etwa von Diabetes oder eines Hirntumors. Am häufigsten sind Lärm, hohe Arbeitsbelastung, psychische Probleme oder eine Mischung von allem verantwortlich für den Tinnitus.
 

 

Ein Marathon von Arzt zu Arzt

Betroffene hören ein Geräusch, für das es keine äussere Schallquelle gibt. Medizinisch ist nicht eindeutig geklärt, wie es dazu kommt. Vermutlich hängt es mit der Schädigung von Haarzellen im Innenohr zusammen. Wegen der vielfältigen Ursachen gibt es gegen Tinnitus keine Behandlungsmethode, die in jedem Fall Erfolg verspricht. Typischerweise beginnt mit dem Pfeifen im Ohr für Betroffene ein Marathon von Arzt zu Arzt: Autogenes Training, Psychotherapie, Hypnose, Akupunktur, Geräte wie Softlaser, Elektrostimulatoren oder Hörhilfen versprechen Linderung – oder eben auch nicht.

Das beste Mittel gegen Ohrgeräusche ist die Prävention: Das Tragen von Ohrenschutz sowie eine gesunde Lebensführung und Entspannungsübungen können vorbeugen. Wer bereits anhaltende Ohrgeräusche hört, sollte rasch den Arzt aufsuchen: Durchblutungsfördernde Medikamente können in den ersten drei Monaten einen akuten Tinnitus noch heilen. Bei chronischem Tinnitus jedoch bleibt dem Geplagten oft nur der Versuch, mit dem Pfeifen im Ohr zu leben. Wichtig ist die Einsicht, dass ein Tinnitus keine Lebens- oder Gesundheitsbedrohung darstellt. Ein Tinnitus kann bewältigt und zu einer neutralen Hörempfindung werden, etwa wie das Ticken einer Wanduhr.
 

 

Hilfe durch einen Rauschgenerator

Vielversprechend ist die sogenannte Tinnitus-Retraining-Therapie oder eine Psychotherapie: Die Erfolgsquote liegt bei 80 Prozent. Zusammen mit einer Hörtherapie wird dabei versucht, die akustische Wahrnehmung des Patienten zu steuern und vom Tinnitus wegzulenken. Ein Rauschgenerator, der wie eine Hörhilfe aussieht und im Ohr getragen wird, hilft. Das Gerät erzeugt ein Rauschen, das leiser ist als der Tinnitus und durch ein angenehmeres Geräusch von ihm ablenkt.

Hans A. hat die Hoffnung auf Ruhe im Kopf längst aufgegeben. Sein Leben sei eine Achterbahn: «Ich muss den Tinnitus akzeptieren. Gleichzeitig ist es meine grösste Sehnsucht, den Mann im Ohr wenigstens für ein paar Tage in die Ferien schicken zu können.» Die Familie und die Selbsthilfegruppe geben ihm Halt.
 

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