Veröffentlicht am 7. März 2019 - 11:42 Uhr,
aktualisiert am 6. März 2019 - 14:42 Uhr
Obwohl man längst erwachsen ist, ändern sich gewisse Verhaltensmuster zwischen Kindern und Eltern nicht: Eine junge Frau verdreht die Augen, während sie telefoniert.
Frage: «Ich bin 55, aber das Verhältnis zu meiner Mutter belastet mich noch immer. Der sonntägliche Anruf ist mir ein Gräuel. Was kann ich tun?»
Es ist schon erstaunlich, wie wir älter werden und trotzdem immer Töchter oder Söhne bleiben. Neulich beobachtete ich eine Szene im Spital: Ein 90-jähriger Mann mahnte seinen 65-jährigen Sohn, er solle eine Kappe tragen, weil es draussen kalt sei. Und dieser zog sich wirklich wie ein Schulbub schon im Spitalzimmer die Kappe über.
«Manche Söhne trauen sich nicht, ihrem Vater zu erzählen, dass sie die Stelle verloren haben.»
Thomas Ihde, Präsident Pro Mente Sana
Der Vater hatte in dieser Situation zwar etwas Gutmeinend-Übergriffiges, doch die Beziehung der beiden wirkte herzlich und respektvoll. Leider ist das nicht immer so. Ich erlebe oft, dass es Leuten ergeht wie Ihnen. Ihre Mütter klagen am Telefon eine Stunde lang über ihre gesundheitlichen Beschwerden und fragen mit keinem Wort nach dem Gesprächspartner.
Ich kenne auch erwachsene Söhne, die sich nicht trauen, ihrem Vater zu erzählen, dass sie die Stelle verloren haben. Denn sie gehen davon aus, dass er ihnen zum zigten Mal einen Vortrag hält, wie wichtig es für ihn gewesen sei, sich ständig weiterzubilden.
Was kann in solchen Situationen helfen?
Fragen Sie sich, was hinter dem Verhalten der Mutter oder des Vaters steht. Viele können leider besser direkt negative Gefühle ausdrücken als positive. Und so hören die Kinder nie, dass die Eltern auch stolz sind auf sie . Das hören nur andere. Und dass sie sie wirklich lieben, ist ein noch besser gehütetes Geheimnis.
Eigentlich braucht der arbeitslose Sohn Trost. Den kann der Vater aber nicht ausdrücken. Hilfreich kann also sein, sich zu fragen: Ist das Verhalten nicht ein ungelenker Versuch, ein vielleicht intimeres Gefühl zu transportieren, das man nie gelernt hat auszudrücken?
Suchen Sie ein klärendes Gespräch. Vielleicht ergibt sich das spontan auf einem Spaziergang. Oder Sie kündigen es an, im Sinne von «nächsten Sonntag beim Besuch möchte ich mit dir besprechen, wie ich unsere Telefonate erlebe». Manchmal ist es hilfreich, wenn jemand anderer beim Gespräch dabei ist.
«Manchmal braucht es einfach eine dicke, wasserabweisende Pelerine.»
Thomas Ihde, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Es kann aber auch helfen, sich in einem Brief auszudrücken. Ich meine wirklich einen Brief, am besten handgeschrieben. Nach meiner Erfahrung heizen SMS oder Whatsapp-Nachrichten Konflikte eher an.
Manchmal braucht es einfach eine dicke, wasserabweisende Pelerine . Unter einer akuten Belastung sind wir alle sehr selbstbezogen. Kurz nach einer Krebsdiagnose vergessen wir zu fragen, wie es anderen geht. Dieser Tunnelblick in der Krise ist normal.
Es gibt aber auch Menschen, die immer sehr selbstbezogen sind. Auch ihren Kindern gegenüber. Diese Kinder leiden oft ein ganzes Leben lang, versuchen lange und auf verschiedenste Weise, die wirkliche Aufmerksamkeit und wirkliche Liebe des Elternteils zu erlangen.
Die Beziehung zu unseren Eltern ist ja etwas Instinktives, deshalb tut es so weh, wenn sie einseitig ist. Und deshalb ist es so schwierig zu akzeptieren, dass die eigene Mutter sich eigentlich vor allem für sich selbst interessiert . Hier geht es mehr um Trauer, ums Akzeptieren, dass es so ist. Aber auch um ein Würdigen dessen, was man trotzdem erreichen konnte.
Wenn sich eine Mutter in den letzten 55 Jahren nicht wirklich für ihre Tochter interessiert hat, ist die Wahrscheinlichkeit leider eher gering, dass sich das noch ändert. Dann braucht es eben die Pelerine.
Auch in solchen Situationen kann es hilfreich sein, einen Brief zu schreiben. Er wird die Situation nicht ändern, aber man fühlt sich nicht mehr so ohnmächtig. Den Brief muss man dann auch nicht unbedingt abschicken.
Jemand, den ich begleite, formulierte es schön: Meine Mutter war nie eine wirkliche Mutter, wie ich sie mir gewünscht hätte. Lange dachte ich, ich schulde es ihr, den Kontakt zu halten. Heute telefonieren wir einmal pro Woche. Einfach weil es meinen eigenen Werten entspricht. Mir ist es wichtig, für andere da zu sein – halt auch für meine Mutter.
«Überlegen Sie sich, wie viel Energie wohin fliesst.»
Thomas Ihde, Psychologe
Selbstschutz darf aber auch heissen, dass man keinen oder nur minimalsten Kontakt hält . Beziehungen sind nicht gratis, sie kosten etwas – Interesse am Gegenüber.
Überlegen Sie sich, wie viel Energie wohin fliesst . Soll die ganze Energie in die Richtung der schwierigen, frustrierenden Beziehung zur Mutter fliessen, oder soll der Grossteil der Energie in Richtung ihrer Kinder und Enkel gehen, wo Sie Liebe schenken und auch wirkliche Liebe spüren können?