Dass sie kaum schreiben kann, merkte niemand, denn sie wusste es geschickt zu verbergen: Mehr als 30 Jahre lang mogelte sich Edith Zoss (Name geändert) aus Bern mit mangelhaften Schreibkenntnissen durch – im Job, im Alltag, im Leben. Die 54-Jährige arbeitet seit über 25 Jahren in einer öffentlichen Bibliothek. Anfangs putzte sie, nach und nach übernahm sie auch andere Aufgaben. Heute organisiert sie Apéros und ordnet neue Bücher ein. In all den Jahren hat sie ein Gespür dafür entwickelt, wen sie wie um Hilfe bitten kann, ohne ihr Geheimnis preisgeben zu müssen. Eine der Methoden: «Ich mache das, ich kenne mich mit der Kaffeemaschine besser aus. Kannst du mir derweil aufschreiben, was wir bestellen müssen?

Banküberweisungen, Behördenbriefe, Einkaufszettel oder nur mal eine Notiz – der Alltag ist voller Schriftsachen. Edith Zoss hatte dafür eine «Privatsekretärin», ihre heute 38-jährige Tochter. «Das Lesen machte mir nie Probleme, nur das Schreiben. Also füllte meine Tochter die Formulare aus oder setzte Briefe auf.»

Edith Zoss ist Schweizerin und absolvierte die obligatorische Schule. Schreiben stand auch bei ihr auf dem Lehrplan. Warum hat sie es nicht gelernt? «Mein Vater hatte Probleme mit Alkohol, und meine Mutter hatte keine Zeit für mich.» Auch die Lehrer kümmerten sich nicht weiter um das Mädchen, das sich oft in Träumereien flüchtete. Man habe sie in eine Schublade gesteckt – und früh aufgegeben: das Kind eines Alkoholikers, aus sozial prekären Verhältnissen, das bei der Mutter lebende Scheidungs- und Schlüsselkind. Ein Kind eben, das es sowieso nicht schaffen wird. «Man schleppte mich zwar durch. Aber niemand dachte daran, mich zu fördern oder zu unterstützen.» Sie beendete ihre Schulzeit, ohne richtig schreiben gelernt zu haben.

Mit 16 wurde Edith Zoss Mutter. Von da an sei es vor allem ums Überleben gegangen. «Ich versuchte, uns allein durchzubringen, ohne Alimente vom Vater des Kindes, ohne Unterstützung vom Staat.» Aus Angst beantragte sie damals keine Fürsorge. «Vielleicht hätte man mir wegen der mangelnden Schreibkenntnisse die Fähigkeit abgesprochen, ein Kind zu erziehen.» Edith Zoss schlug sich durch. Sie arbeitete in Fabriken, an Tankstellen, als Haushaltshilfe, trug Zeitungen aus – oft in mehreren Schichten, bis zu 14 Stunden am Tag. Trotz der enormen Belastung habe sie eines nie versäumt: «Meiner Tochter beizubringen, wie wichtig es ist, konsequent zu lernen.»

366'000 Schweizerinnen und Schweizer zwischen 16 und 65 Jahren sowie 415'500 hier lebende Personen ausländischer Herkunft können schlecht lesen und schreiben. Man spricht von Illetrismus, auch funktionaler Analphabetismus genannt. Jedes Jahr kommen 4000 bis 5000 Schüler und Schülerinnen dazu – sie verlassen die obligatorische Schule mit ungenügenden Kenntnissen. Probleme mit dem Schreiben zu haben oder einfache Texte nicht gut lesen oder verstehen zu können hat Folgen: Illetrismus führt zu prekären Anstellungsverhältnissen oder zu Arbeitslosigkeit. Denn: Jobs, bei denen keine Schreibkenntnisse nötig sind, gibt es praktisch nicht mehr.

Vorurteil: «Dumm und selber schuld»

Betroffene werden zudem ausgegrenzt. «Noch immer herrscht die Meinung vor, wer nicht gut lesen und schreiben kann, sei dumm, habe in der Schule nicht aufgepasst, sei also selber schuld», sagt Rosita Della Morte vom Verein Lesen und Schreiben in Bern. Zudem werde es in unserer Gesellschaft als Schande angesehen, Fehler zu machen. Betroffene kaschieren daher ihre Schwäche. Viele glauben, allein dafür verantwortlich zu sein. Sie schämen sich, etwas nicht zu können, was angeblich selbstverständlich ist. Darin sieht Della Morte einen der Hauptgründe, warum sich viele Betroffene nicht überwinden können, als Erwachsene besser lesen und schreiben zu lernen. Werde ein Kind vor allem an seinen Schwächen gemessen und nicht an seinen Stärken, könne das ein grosses Hindernis sein fürs Lernen im Erwachsenenalter.

Eine 54-jährige Fünftklässlerin

In verschiedenen Städten werden spezielle Lese- und Schreibkurse für Erwachsene angeboten (siehe «Weitere Infos»). Man kann sich auch anonym anmelden. Edith Zoss entdeckte ein solches Angebot in der Zeitung. Ein Jahr lang habe sie den Ausriss mit sich herumgetragen. «Ich konnte mich nicht überwinden; ich hatte Bedenken, mein Defizit zu offenbaren. Und ich wusste nicht, ob ich den Kurs durchhalten würde.» Auch motiviert durch ihre Tochter, ging sie schliesslich doch hin, zum ersten Mal vor zwei Jahren. Es sei eine ihrer klügsten Entscheidungen gewesen. Die 54-Jährige bezeichnet sich als Fünftklässlerin: Sie schreibt wie ein elfjähriges Kind. «Das ist noch nicht perfekt, und die Grammatik hat es in sich. Aber ich habe Fortschritte gemacht.» Edith Zoss ist eine fleissige Schülerin: Jedes Wochenende büffelt sie die Lektionen mit Menschen, denen sie sich anvertraut hat. Diktate hat sie am liebsten; und sie hat angefangen, Tagebuch zu führen.

Schreiben zu können ist für Edith Zoss mehr als eine neu erworbene Fähigkeit. Es ist Befreiung und Privileg zugleich. Endlich brauche sie sich nicht mehr zu verstecken, auch mit ihrer Chefin habe sie inzwischen gesprochen. «Sie macht mir Mut, weiter die Kurse zu besuchen.» Jahrzehntelang habe sie sich ausgegrenzt und minderwertig gefühlt, sagt Edith Zoss. Aber jetzt fühle sie sich als Teil der Gesellschaft, als jemand, der dazugehört.

  • Sprechen Sie das Thema wohlwollend unter vier Augen an. Dafür braucht
    es eine Vertrauensbasis. Geben Sie Betroffenen das Gefühl, dass Sie sie wertschätzen.

  • Werten Sie nicht, verurteilen Sie nicht, stellen Sie keine Forderungen. Machen Sie klar, dass es nicht schlimm ist, Fehler zu machen.

  • Bieten Sie einen Tausch an: «Ich korrigiere deinen Text, und du erledigst dieses Telefonat für mich.» Beide Personen profitieren.

  • Weisen Sie darauf hin, dass viele Erwachsene dieselben Schwierigkeiten haben und es spezielle Kurse gibt.
  • Sprechen Sie Betroffene nie vor anderen Leuten auf ihre Schwäche an.

  • Setzen Sie sie nicht unter Druck.

  • Verlangen Sie von Betroffenen kein fehlerfreies Lesen oder Schreiben.

Hotline für Erwachsene, die lesen und schreiben lernen wollen: 0840 47 47 47 (Ortstarif)