11_00_couchepin.jpgDer zornige Ostschweizer schickte seinen Brief an den «Bundesrad» in Bern. «Sehr geehrtes Bundeshaus», schrieb er, «wenn ich ehrlich bin, lässt Ihr Bundesrat sehr zu wünschen übrig.» Denn: «Er kostet nur Geld und bringt nicht viel, das einen Nutzen hätte für das Schweizer Volk gute Vorschläge werden schubladisiert und vergessen.» Den abschliessenden «Gruss» ergänzte er mit dem Rat: «Früher aufstehen!»

Tag für Tag geht die Post ab Richtung Bundeshaus. Berge von Bürgerbriefen treffen ein adressiert an den Bundesrat oder an ein spezielles Bundesamt. Ruth Dreifuss etwa erhält täglich «zwischen 10 und 20 Mails sowie zwischen 25 und 50 Bürgerbriefe per Post». Bei Pascal Couchepin sind es «im Schnitt 200 Bürgerbriefe pro Monat». Uberschwemmt wird der Bundespräsident: Adolf Ogi erhielt im Januar 700 Briefe, im Februar 800 «und im März zirka 1700 Briefe».

Deiss-Schwäche weckte die Heiler

Die einen wollen nur die Geburt ihrer Welpen vermelden oder einen Fernsehauftritt kommentieren; andere verlangen Auskunft oder erhoffen sich Hilfe in einer ausweglosen Situation. Und als Joseph Deiss einen kurzen Schwächeanfall erlitt, griff die Heilerszene in die Tasten: Vom Wunderarzt bis zum Kräutertee wurde dem Aussenminister alles empfohlen.

Was passiert mit dieser Briefflut? Der Beobachter wollte es genau wissen und startete einen Test. Unter dem Namen von sieben unscheinbaren Privatpersonen erhielten alle Bundesräte Anfang März eine Anfrage zum Thema AHV. Das erfreuliche Resultat: Nach 34 Tagen waren sechs Antworten eingetroffen fünf signiert von Bundesräten. Nur Adolf Ogis Brief kam aus der Bundeskanzlei.

Keine Nachricht kam aus dem Hause Metzler. Dem Pressechef der Justizministerin ist der Lapsus hörbar peinlich. «Der Brief ist bei uns angekommen und zur Beantwortung weitergeleitet worden dann verliert sich die Spur», bedauert Viktor Schlumpf. Eine Ausnahme, wie er beteuert. Denn bei Ruth Metzler gelte: Wer in anständigem Ton schreibt, darf eine von ihr unterzeichnete Antwort erwarten.

Klarer Sieger im Beobachter-Test ist Pascal Couchepin. Sein Brief ist nicht nur edel im Auftritt, auch der Inhalt ist bemerkenswert. Ohne Umschweife begründet der streitbare Magistrat, warum eine Erhöhung des AHV-Alters zumindest diskutiert werden müsse. «Die politische Diskussion ist ihm sehr wichtig», sagt Departementssprecherin Eliane Baumann. «Deshalb will er in seinen Briefen möglichst konkret auf die Fragen eingehen.»

Die Meinung aber, dass sich Bundesräte an den Computer setzen und Bürgerbriefe beantworten, ist falsch. «Die Antwort wird durch das Generalsekretariat, die persönlichen Mitarbeiter oder das zuständige Bundesamt vorbereitet», sagt Eliane Baumann. So läuft es in allen Departementen. Aber es gibt Ausnahmen. «Bei ganz persönlichen Briefen diktiert Moritz Leuenberger die Antwort selber», heisst es in seinem Umfeld. Und Ruth Dreifuss lässt es sich laut ihrer Sprecherin Suzanne Auer «nicht nehmen, manchmal handschriftlich einen persönlichen Gruss hinzuzusetzen».

Das Spektrum im bundesrätlichen Schriftenwechsel ist grenzenlos. Hier dankt Moritz Leuenberger einem Bergbauern für den «würzigen Käse aus den Tessiner Bergen, der mich auf dem üblichen Postweg in bestem Zustand und innert nützlicher Frist erreicht hat». Der Adressat hatte sich beklagt, mit noch höheren Posttaxen könne er seinen Bergkäse nicht mehr gewinnbringend vermarkten.

In einem anderen Brief wünscht Kaspar Villiger «viel Kraft und Zuversicht». Die kranke Frau hatte sich beklagt, dass der Bund sein Geld den Asylsuchenden nachwerfe; andererseits müssten die Kranken «bald noch die Medikamente selber zahlen». Und so weiter.

In Bargetzis Schreibstube

Schimpftiraden und Zoten landen im Papierkorb, die Schriften der ewigen Stänkerer im Ordner, Drohbriefe beim Bundesanwalt. Bei allgemeinen Anfragen und Rundumschlägen kommt häufig Fridolin Bargetzi zum Zug. Der Adjunkt in der Bundeskanzlei gilt als einer der bestinformierten Beamten in Bundesbern. «Jeder Brief wird beantwortet», so seine Devise.

Hunderte von Bundesordnern rahmen sein schmales Büro voll Anfragen, Antworten, Pressemitteilungen, parlamentarischen Vorstössen und Broschüren. «Es ist immer gut, wenn ich einen Brief mit einem Originaldokument ergänzen kann», erklärt der Bündner.

Das hat sich Bargetzi auch beim Beobachter-Test gesagt. Der Antwort, die er «im Auftrag von Herrn Bundespräsident Adolf Ogi» formulierte, legte er eine AHV-Broschüre bei. Dass die Ogi-Post aus Bargetzis Schreibstube kam, war übrigens kein Zufall: «Wir haben den Auftrag, den jeweiligen Bundespräsidenten zu entlasten.»

Allein um sich und seine Datenbanken à jour zu halten, setzt Fridolin Bargetzi täglich rund drei Stunden Arbeit ein: eine Stunde Zeitungen und Agenturmeldungen lesen, eine Stunde für Archiv und Registratur, eine Stunde Recherche. Ferien sind zwar nett, die Tage danach aber eine Last. Nach vier Freitagen Anfang Mai stapelten sich 50 Anfragen auf seinem Pult.

Rund 2500 Briefe hat der Einmannbetrieb im letzten Jahr produziert; heuer waren es allein 1400 in den ersten vier Monaten. «Purer Wahnsinn», sagt sogar der Routinier. Allein der umstrittene Besuch des österreichischen Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel bescherte ihm gegen 700 Schreiben. «Eine organisierte Aktion», weiss Bargetzi. Davon gebe es jährlich eine oder zwei. Zur Post hinzu kommen Telefonanfragen und immer mehr E-Mails. Die Arbeit bleibt vielfältig: «Ich bin Jurist, Psychiater, Pfarrer, Sozialarbeiter, Lehrer und Blitzableiter für den Bundesrat.»

Den Briefwechsel mit dem Volk nehmen die Bundesräte ernst. «Das ist eine Frage der politischen Kultur und des Anstandes», meint Deiss-Sprecher Ruedi Christen. Bei den anderen Bundesräten tönt es ähnlich. «Grundsätzlich werden alle Zuschriften an Herrn Ogi beantwortet, in der Regel innerhalb von zwei Wochen», heisst es beim Präsidenten. Dass ein Brief «unters Eis gerät», sei «sicher die grosse Ausnahme».

Wichtiger Kontakt zum Volk

Die Briefe haben dennoch eine politische Dimension. «In einer direkten Demokratie muss sich die Regierung um den Kontakt zum Volk bemühen», glaubt Fridolin Bargetzi. Das meint auch Politberater Iwan Rickenbacher: «Seit der Bundesrat bei Volksabstimmungen selber Kampagnen führt, ist der Kontakt zum Stimmvolk noch wichtiger geworden.» Den Einwand, ein paar Zeilen aus dem Bundeshaus seien kein Einflussfaktor, lässt Rickenbacher nicht gelten: «Viele der Briefe ziehen grössere Kreise.» Sie werden herumgezeigt in der Familie, am Stammtisch, im Verein.

Bringschuld der Regierung

Ein neues Demokratieverständnis ortet auch der Politologe Claude Longchamp; jedoch in einem anderen Sinn. «Nicht mehr die Bürgerinnen und Bürger haben eine Holschuld, sondern die Verwaltung eine Bringschuld.» Wenn das Volk etwas nicht verstehe, müsse man sich nicht beklagen, «sondern selber aktiv erklären».

Mitunter macht das Volk mit seinen Zuschriften sogar Politik. Karl Schwaar, Mitarbeiter von Moritz Leuenberger, kann sich an mindestens zwei Beispiele erinnern, «als uns Briefschreiber auf ein akutes oder uns nicht bekanntes Problem aufmerksam machten».

Gekippt wurde etwa das Verbot, auf unbemannten Autobahnraststätten eine Imbissbude zu montieren. Auch auf die unsäglichen Winterreifen-Autokleber wurde der Verkehrsminister via Bürgerbrief aufmerksam. Vor zwei Jahren mussten Autos wie in der EU mit einem Kleber ausgerüstet sein, auf dem die erlaubte Maximalgeschwindigkeit für die Winterreifen draufstand bei Tempo 120 schweizweit ein Unsinn. Der Kleber ist abgeschafft.

In Zukunft dürften die Bürgerbriefe an Bedeutung verlieren. «Mit der Verbreitung des Internets könnte die E-Mail diese Funktion übernehmen», vermutet Claude Longchamp. Weil die elektronische Nachricht schneller geschrieben ist, steige die Zahl der Anfragen derart, dass sie nur noch «typisiert nach Themen beantwortet werden können», sagt der Politologe. «Das baut natürlich einen Teil der Wirkung ab, die eine persönliche Antwort hat.»

Couchepins süsser Dank

Schade manchmal machen die Briefe nämlich auch Spass. In einer Arbeit über Bundesratswahlen konnte nur einer von 15 Berufsschülern den Namen «Couchepin» korrekt schreiben. Der Lehrer stellte dem Walliser die reiche Namenspalette zu. Der amüsierte Bundesrat revanchierte sich mit einer reichen Palette Süssigkeiten.

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