«Für die aufwendigste Frisur brauche ich fast zwei Stunden»
Esmée Güntensperger reist regelmässig ein paar Jahrhunderte zurück: An Mittelaltermärkten flicht die Thuner Coiffeuse Haare mit Wollgarn und Nadeln aus Knochen.
Aufgezeichnet von Käther Bänziger
Ich weiss, das Mittelalter hat nichts mit unseren romantischen Vorstellungen davon zu tun. Die Menschen waren ungewaschen, die Strassen voll von Fäkalien, es herrschte viel Willkür, und Frauen hatten keine Möglichkeit, sich zu verwirklichen. Sie waren – abgesehen von einigen wenigen Prinzessinnen – Dienstbotinnen, Prostituierte, Mutter und Hausfrau. Frisuren wurden von Zofen und Rasuren von Badern gemacht.
So gesehen ist mein Zelt, in dem ich Frauen und Männer nach mittelalterlichen Vorbildern frisiere und rasiere, nicht wirklich authentisch. Authentisch sind aber die meisten der mittlerweile über 30 Flechtfrisuren, die ich anbiete – doch auch dort muss ich manchmal Abstriche machen. Bei kürzeren Haaren benutze ich Haargummis und Spängeli, beides gab es damals natürlich noch nicht. Nur bei Langhaarfrisuren kann ich mit derselben Nähtechnik wie vor 500 Jahren arbeiten, mit Wollgarn und Nadeln aus Knochen oder Geweih.
Beigebracht habe ich mir das alles selbst. Ich besuchte vor gut vier Jahren zum ersten Mal einen Mittelaltermarkt und war fasziniert – dieses Eintauchen in eine völlig andere Zeit, in der alles viel gemächlicher verlief, entsprach mir sehr, es war wie eine Auszeit im Märchenland.
Gleich bei diesem ersten Besuch wollte ich mir eine Flechtfrisur machen lassen. Doch ich suchte vergeblich nach einem entsprechenden Stand. Viele Marktbesucher waren zwar mehr oder weniger historisch gewandet, trugen aber moderne Haarschnitte, die nicht wirklich ins Bild passten. Auch an weiteren Märkten fand ich keinen, der mittelalterliche Frisuren gemacht hätte. Ich beschloss daher, diese Lücke selbst zu füllen, suchte im Internet, in Zeitschriften und auf alten Bildern nach mittelalterlichen Frisuren und probierte sie an Freundinnen, Bekannten und Verwandten aus. Später sprach ich wildfremde Leute auf der Strasse an, ob sie Lust hätten, Modell zu sitzen. Vor dem ersten Marktgang wollte ich möglichst viele Haartypen geflochten haben.
«Ich fand keinen, der mittelalterliche Frisuren macht. Daher beschloss ich, diese Lücke selbst zu füllen.»
Esmée Güntensperger
Heute mache ich das im vierten Jahr und kann einer Kundin auf Anhieb sagen, was mit ihrem Haartyp und Schnitt geht und was nicht. Die aufwendigste Frisur, die ich anbiete, ist ein aus Haaren geflochtenes Netz, dafür brauche ich fast zwei Stunden.
Die meisten Kundinnen wünschen aber etwas Einfacheres, das schnell gemacht ist. Einfachere Frisuren benötigen rund 20 Minuten Zeit. Daneben flechte ich hin und wieder einen Bart oder arbeite als Barbier. Das beginnt damit, dass ich die Gesichtshaut mit heissen Tüchern bedecke und dann mit einer wohlriechenden Seife einschäume, die die Bartstoppeln aufweicht. Wie im Mittelalter verwende ich dazu einen Dachshaarpinsel. Die Klinge wechsle ich aus hygienischen Gründen allerdings nach jeder Rasur.
Es gibt auch andere Zugeständnisse an die heutige Zeit. Die Frisuren stelle ich meinen Kunden anhand von Fotos vor, Zeichnungen wären da zu ungenau. Obwohl die meisten Veranstalter einen möglichst authentischen Mittelaltermarkt wünschen, hat deswegen noch keiner reklamiert. Denn auch andernorts werden natürlich Abstriche gemacht. Ohne Elektrizität geht nichts, schon wegen der Lebensmittel, die verkauft werden – der Kühlschrank wird aber wie die meisten modernen Geräte hinter Jute versteckt. Und selbstverständlich gibt es an jedem Markt auch Toilettenanlagen.
Das Essen hingegen ist oft tatsächlich eher mittelalterlich, Hotdogs und Hamburger habe ich noch nie gesehen. Typisch sind Spanferkel oder Schweine am Spiess, manchmal sogar ein Ochse. Das meiste wird unter fantasievollen Namen wie Ritterspiess oder Teufelsgebräu angeboten. Der Dienstbotenteller ist meist fleischlos und besteht zum Beispiel aus Polenta mit Gemüse. Sehr typisch ist auch ein Linseneintopf.
Hinter den Kulissen ist es an einem Mittelaltermarkt längst nicht so romantisch, wie man als Besucher meinen könnte. Schon der Aufbau ist ein Knochenjob, und danach lebt man bei jeder Witterung das ganze Wochenende draussen. Im Juli hatten wir 39 Grad im Zelt, am darauffolgenden Markt hat dann der Wind die ganze Einrichtung ins Wanken gebracht. Es war wie bei einem Erdbeben, zum Glück gab es keine Verletzten.
Auch die Fahrerei an die jeweiligen Veranstaltungsorte ist anstrengend. Deshalb mache ich im Schnitt zehn Märkte pro Jahr, mehr wäre mir neben meiner normalen Arbeit in meinem Coiffeursalon zu viel. Bisher habe ich es mir nicht nehmen lassen, zusätzlich einmal im Jahr als Besucherin auf einen Mittelaltermarkt zu gehen. Dann kann ich wieder wie früher völlig in diese faszinierende Welt eintauchen und sie einfach nur geniessen.
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