Lautes Fauchen. Die Papierbahn, die eben noch mit fast 14 Metern pro Sekunde vorbeidonnerte, wickelt sich um die Transportrollen; das kurze Ende peitscht mit schnellen Schlägen auf die Umlenkstangen. Überall schweben Papierfetzen zu Boden. Jürg Bächtold seufzt. Die Produktion in der Zofinger Druckerei ist bereits zwölf Stunden im Rückstand. «Jetzt müssen sie wieder von vorn anfangen.» Aus der Ruhe bringen lässt sich der 58-Jährige aber nicht. Seit sieben Jahren organisiert er die Heftwerdung des Beobachters: «Und er ist noch jedes Mal erschienen.»
Bis aber ein gedrucktes Exemplar beim Leser ankommt, legt jeder Artikel einen langen Weg zurück - und der beginnt an der Förrlibuckstrasse 70 in Zürich. Im dritten Stock des modernen Bürogebäudes residiert der altehrwürdige Schweizerische Beobachter. Wer hier ein und aus geht, spricht allerdings nur vom «Beo». Wohl aus reiner Bequemlichkeit geboren, ist das Kürzel mittlerweile eher ein Kosename, der dem abstrakten Gebilde aus Redaktion, Buchverlag und Beratungszentrum quasi menschliche Wesenszüge verleiht.

Abzockern auf der Spur

Wäre der Beo tatsächlich aus Fleisch und Blut - das Beratungszentrum wäre das offene Ohr, dem Hilfesuchende ihr Schicksal klagten. «So eine Rattenfängerei!», entrüstet sich Beraterin Ruth Bossart. Sie hat soeben den Anruf von Christine Bucher entgegengenommen: Eine Firma namens S.H.D. Dienstleistungscenter hat versucht, ihrem Schwiegervater Gottfried Bucher einen Partnervermittlungsvertrag anzudrehen. Ein «lieber Nachbar», hatte ihm ein Herr Schlup am Telefon erklärt, habe die S.H.D. auf Buchers Einsamkeit hingewiesen. Aus Neugierde liess sich der 83-Jährige auf ein Treffen in einem Restaurant ein. Als er sich dort dann aber standhaft weigerte, einen Vertrag zu unterschreiben, liess Schlup den Rentner wortlos sitzen. Nach ein paar Tagen flatterte Buchers eine Rechnung ins Haus. Schlup forderte 480 Franken für seinen Zeitaufwand und drohte bei Nichtbezahlung mit Betreibung.

Beobachter-Expertin Bossart muss nicht lange überlegen: Die Forderungen sind haltlos. Ein Blick in die Falldatenbank zeigt, dass sich wegen Schlup bereits weitere Ratsuchende beim Beo gemeldet haben. Ein Betroffener hat der S.H.D. fast 3'500 Franken überwiesen - ohne danach je irgendwelche Partnervorschläge bekommen zu haben. «Solche Abzockereien funktionieren immer nach demselben Muster», sagt Bossart. «Wenn wir an einem typischen Fall die Rechtslage aufzeigen, kann das anderen Lesern helfen, die von ähnlichen Machenschaften betroffen sind.» Gottfried Buchers Geschichte ist also ein Musterfall. Und so übergibt Bossart mit Buchers Einverständnis die Gesprächsnotizen der Heftredaktion.

Diese arbeitet gleich nebenan in einem Grossraumbüro, das von einer frei stehenden, orangefarbenen Wand in ungleich grosse Hälften geteilt wird. An einigen Pulten wird eifrig telefoniert und getippt, andere sind gerade nicht besetzt. Aus dem Kaffeeraum ist ein Johlen und Scheppern zu vernehmen. Die Redaktoren Matieu Klee und Thomas Grether versuchen, wenigstens am Töggelikasten die Meisterschaft für Basel zu holen. Ihnen steht der FCZ mit Iwon Blum im Tor und Sven Broder in der Offensive gegenüber. Wenig Hoffnung für Basel. Vom Stehtisch aus verfolgen andere belustigt oder befremdet das Treiben am Kasten. Es riecht nach Kaffee und kaltem Zigarettenrauch.

Der Fall mit der Partnervermittlung ist inzwischen bei Beo-Mitarbeiter David Lier gelandet. Nachdem ihm Christine Bucher das Schreiben der S.H.D. gefaxt hat, sucht er im Handelsregister nach Einträgen zur Firma - sie wird als gelöscht aufgeführt. Da keine Telefonnummer des Unternehmens zu finden ist, konfrontiert Lier Schlup schriftlich mit den Vorwürfen und bittet ihn um eine Stellungnahme. Mit Bildredaktorin Marina Roth bespricht Lier kurz, wie die Geschichte fotografisch umgesetzt werden soll.

Insgesamt sind beim Beo 20 Redaktoren und eine Reihe Freischaffender dem Unrecht auf der Spur: von Behördenschlamperei über zahlungsunwillige Versicherungen und pfuschende Baufirmen bis hin zu Amtsträgern, die es mit Gesetzen nicht so genau nehmen. Während manche Artikel mit ein paar Telefonaten erledigt sind, können sich die Nachforschungen bei besonders heiklen oder komplexen Angelegenheiten über Wochen und Monate hinziehen. Und nicht immer ist der Aufwand von Erfolg gekrönt. «Geschichten können aus verschiedenen Gründen sterben», sagt Redaktor Dominique Strebel. So komme es vor, dass ein vermeintliches Opfer nur versuche, jemanden anzuschwärzen, oder Betroffene ihre eigenen Fehler verschwiegen. «Deshalb prüfen wir zuallererst die Anschuldigungen auf ihre Glaubwürdigkeit.» Allein dafür muss sich der Journalist zuweilen durch ganze Aktenstapel arbeiten.

Sitzung ohne Sitzgelegenheit

Ob ein geplanter Artikel überhaupt zustande kommt oder nicht, bleibt deshalb manchmal lange unsicher. Da es zudem möglich ist, dass neue, aktuellere Themen ins Heft drängen, wird die Planung mitunter zum komplizierten Puzzle. Dass eine Beobachter-Ausgabe auf verschiedene Bögen gedruckt wird, für die unterschiedliche Abgabetermine gelten, macht das Ganze nicht einfacher. «Alles ist im Fluss», sagt Textchef Matthias Pflume. Er vertritt heute Blattmacher Thomas Roth, der normalerweise mit Terminen, Seiten und Inhalten jonglieren muss. Auch wenn der Beo nur alle zwei Wochen erscheint, tun regelmässige Standortbestimmungen not. Mittwochs bis freitags läutet pünktlich um 11.45 Uhr die Tresenglocke zur sogenannten Stehung - einer Sitzung ohne Sitzgelegenheiten und zu einer Zeit, wo die meisten in die Mittagspause wollen. «So dauert es nicht zu lange», sagt Pflume. Da es keine Schwierigkeiten, Rückschläge oder andere besondere Vorkommnisse gibt, steht dem Mittagessen nichts im Weg. Volontär David Lier nimmt die Pizzabestellungen auf.

Sein Artikel über die Partnervermittlungsfalle ist mittlerweile fast fertig. Wenn Schlup auf das Schreiben nicht mehr antwortet, braucht Lier den Artikel nur noch mit einem entsprechenden Vermerk zu versehen. Hat der Textchef den Artikel gegengelesen und seine inhaltlichen wie stilistischen Korrekturen angebracht, gehen die Zeilen ins Layout, wo Produktionsleiter Mario Güdel und sein zehnköpfiges Team dafür sorgen, dass die Artikel attraktiv und leserfreundlich daherkommen. «Die Titel und Bilder dienen als Blickfang, spannende Zwischentitel sorgen dafür, dass der Leser nicht aussteigt», so Güdel. Das gilt auch für das Heft als Ganzes. «Wir achten darauf, dass sich ein Spannungsbogen durch die ganze Ausgabe zieht.» Deshalb müssten die Artikel thematisch abwechslungsreich sein. An der orangefarbenen Wand hängen ausgedruckte Doppelseiten der nächsten Ausgabe. «So behält man den Überblick.» Güdel achtet auch darauf, dass zwischen Werbung und Texten keine ungewollten Zusammenhänge entstehen. «Werbung für ein homöopathisches Heilmittel darf nicht neben einem Artikel über ein Pharmaunternehmen stehen.» Sind alle Komponenten in einen Artikel eingefügt, wird er ein letztes Mal gegengelesen. Gibt auch das Korrektorat grünes Licht, ist die Seite «gut zum Druck». Selbst dann ist die Qualitätskontrolle noch nicht ganz beendet: Die Druckvorstufe erstellt einen Probeausdruck, der noch einmal auf Herz und Nieren geprüft wird. Jeden zweiten Montag ist um 18 Uhr Deadline für alle Seiten des letzten Druckbogens; dann müssen die Daten auf den Server der Ringier Print gestellt werden.

880 Kilometer lange Papierbahn

Die Daten der inneren Bögen dieser Beobachter-Ausgabe sind bereits vor dem Wochenende an Ringier in Zofingen gegangen, wo sie aufbereitet und an die Computer-to-Plate-Stelle - kurz: CTP - weitergegeben werden. Der Raum hat etwas von einer Zahnarztpraxis - helles Licht und Linoleumböden. In einer Maschine brennen computergesteuerte Laserdioden lautlos die Zeichen und Bilder auf beschichtete Aluplatten. Operator Stefan Leu untersucht die belichteten Platten auf Fehler oder Unreinheiten, bevor sie in die Druckerei gebracht werden.

Dienstagnachmittag, aus der zwölf-stündigen Verspätung beim Druck des aktuellen Beobachters ist noch etwas mehr geworden, aber die Druckmaschine läuft nun wieder. Philipp Murat und Mišel Zlatunic haben die Panne behoben und das Papierband neu eingezogen. «Das ist das Maximum», sagt Murat, «40'000 Exemplare pro Stunde.» Hinter der Plexiglaswand, die die Druckmaschine von der restlichen Werkhalle trennt, donnert die 1,3 Meter breite Papierbahn über die Druckplatten, die nacheinander Schwarz, Blau, Rot und Gelb auftragen. Danach verschwindet das Band in einem Heisslufttrockner, bevor es am anderen Ende in einzelne Bögen zerschnitten und gefalzt wird. «Für die gesamte Beobachter-Auflage von 340'000 Stück, inklusive Papiervorlauf, Einrichtphase und Makulatur, benötigen wir 71,5 Tonnen Papier», sagt Bächtold - zusammen ein Band von rund 880 Kilometern Länge.

Zlatunic prüft an einem hell erleuchteten Tisch die Farbdichte eines Bogens. Er geht zum Kontrollpult, das an ein Requisit aus einem alten Science-Fiction-Film erinnert, und drückt ein paar Knöpfe: «Da war etwas viel Blau.» Kollege Murat hat unterdessen einen weiteren Bogen aus dem Förderband gezupft. Obwohl er das Produkt vor allem unter technischen Gesichtspunkten betrachte, bleibe er öfter an einem Text hängen, sagt der 46-Jährige. «Wir sind die ersten Leser - das gehört dazu.»

Über lange Transportbänder gelangen die Bögen ins gegenüberliegende Gebäude. «Dabei kann das Papier nach den Strapazen ein bisschen herumhängen», scherzt Bächtold, trotz Hektik und Zeitdruck guter Dinge. Er wird die Materialschlacht auch diesmal gewinnen. In der Ausrüsterei warten bereits die Bögen mit den inneren Seiten des Hefts. Auf dem sogenannten Sammelhefter werden sie zusammengefügt. Von hier läuft alles automatisch - Hefte heften, Beilagen beilegen, Bündel binden. Nur für den Nachschub an Beilagen muss eine Schar von Arbeiterinnen sorgen. Sie reden nicht - es ist zu laut, um unwichtige Sachen zu sagen. Eine Maschine druckt die Adressen auf die Verpackungsfolien und macht die anonymen Hefte zu persönlichen Exemplaren, bevor sie nach Postleitzahl geordnet und auf Paletten gelagert werden. Bald kommt der Lastwagen der Post, der die Fracht ins Verteilzentrum bringt.

Am Freitagmorgen schliesslich, kurz vor elf, fährt Pöstler Willi Felber bei Christine Bucher vor und drückt ihr den Beo in die Hand. Die Geschichte ihres Schwiegervaters steht auf Seite 12 (siehe Artikel zum Thema «Partnervermittlung: Showdown im ‹Hirschen›».

Anfang war ein Anruf: Der Beobachter hakt nach

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Förrlibuckstrasse 70, Zürich: Hier sind Redaktion, Beratungszentrum und Verlag des Beobachters untergebracht.

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Der Draht zur Leserschaft: Beraterin Ruth Bossart nimmt Gottfried Buchers Fall auf und leitet ihn an die Redaktion weiter.

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Die Redaktion übernimmt: Volontär David Lier beginnt mit der Recherche - unter dem Arbeitstitel «Partnervermittlungsfalle».

Die Recherche ist abgeschlossen: Das Heft nimmt Gestalt an

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Das ungeschriebene Gesetz: Zehn Minuten am Töggelikasten geben Energie für weitere Stunden der harten Recherche.

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Heftkritik: Chefredaktor Balz Hosang (Mitte), Blattmacher Thomas Roth (links) und Textchef Matthias Pflume

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Der Artikel bekommt eine Form: Layouter Daniel Röttele und Produktionschef Mario Güdel begutachten die Seitengestaltung.

Die Druckerei übernimmt: Vom Computer aufs Papier

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Lagebesprechung: Art Director Andrea Schamaun (rechts) und Bildredaktorin Mena Ferrari achten auf die Seitenabfolge.

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Letzte Korrekturen vor dem Druck: CTP-Operator Stefan Leu untersucht die belichtete Druckplatte auf Fehler.

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Eine gute Planung ist alles: Druckexperte Jürg Bächtold erklärt Beobachter-Autor Balz Ruchti, worauf es ankommt.

Von der Druckerei in den Briefkasten: Der Beobachter erreicht eine Million Leserinnen und Leser

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«Da war etwas viel Blau»: Mišel Zlatunic bedient die Drucksteuerung.

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Mehrere Beobachter-Seiten auf einen Streich: So sieht ein Druckbogen aus, bevor er gefaltet und geschnitten wird.

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Der Blick des Experten: Philipp Murat überprüft die Druckqualität.

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Jetzt fehlen nur noch die Beilagen: Mitarbeiterinnen sorgen für den nötigen Nachschub im Sammelhefter.

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Zurück am Start: Pöstler Willi Felber händigt Christine Bucher den Beobachter mit dem von ihr geschilderten Fall aus.

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Die Gesichter hinter der Schlagzeile «Showdown im ‹Hirschen›»: Gottfried Bucher mit Schwiegertochter Christine