Sie liegt auf dem Nachttisch und ist das erste Ding, das die Hand nach dem Aufwachen anrührt: die Brille. Keinen Schritt tut die Schreibende ohne ihr Gestell auf der Nase. Linsen – nein, danke. Viel zu kompliziert am frühen Morgen.

Wenig überraschend zeigte die versammelte Redaktion auf die kurzsichtige Schreiberin, als es darum ging, eine Versuchsperson für die Beobachter-Stichprobe zu finden. Der Test fand in neun kleinen und grossen Schweizer Optikergeschäften statt. Der vorgeschobene Grund des Besuchs: eine leicht unscharfe Sicht, die, kein Wunder nach langen Arbeitstagen am Computer, vor allem abends besser sein könnte.

Neunmal führten Optiker einen «subjektiven» Sehtest durch, der die eigene Wahrnehmung misst. Dafür sitzt der Kunde in einem meist leicht abgedunkelten Raum auf einem thronähnlichen Stuhl. Statt der vertrauten Brille ruht ein unbequemes Gestell aus Plastik auf der Nase. Nacheinander werden verschiedene Gläser in die Fassung eingelegt.

Auf die Sehtafel schauen, heisst es. «Welche Buchstabenreihe können Sie noch lesen?», fragt der Brillenspezialist. Und, jedes Mal, wenn er ein neues Glas einsetzt: «Ist es so besser oder schlechter?»

Zuvor hat sich die Schreibende von Eveline Federspiel-Eisenring, Augenärztin und Präsidentin der Schweizerischen Ophthalmologischen Gesellschaft, medizinisch untersuchen lassen. Die Augen sind gesund, und die zirka zwei Jahre alte Brille tuts noch. So der Befund der Augenärztin.

Kommen die Optiker auf dasselbe Resultat oder versuchen sie, eine neue Brille an die Frau zu bringen? Der Beobachter achtete bei seiner Stichprobe auf die Beratung, Empfehlungen und die Kosten.

Der Kampf ums ÜberlebenDen Durchblick hatten die Fachleute jeweils schnell. Nach rund 20 Minuten hatten sich alle ein Bild über den Grad der Kurzsichtigkeit der Kundin gemacht.

Das Erfreuliche vorweg: Alle ausgestellten Rezepte zeigten ähnliche Werte. Da die Messungen subjektiv sind, sind die ermittelten Abweichungen von –0,25 bis –0,5 Dioptrien normal. Weniger erfreulich war, dass ein Optiker eine neue Brille verkaufen wollte, obwohl sie nicht nötig wäre.

Bei Götte Optik, einem edlen Geschäft an der Zürcher Bahnhofstrasse, kommt zum Sehtest ungefragt eine Augendruckmessung hinzu. «Ihr Augendruck ist ideal», gratuliert die Optikerin bei Götte.

Die medizinischen Fachleute sehen das gar nicht gern: «Diagnosen zu stellen ist Sache des Arztes», sagt Augenärztin Federspiel-Eisenring. «Für den Optiker sind die Werte nicht interpretierbar. Es kann sein, dass sich der Kunde nach dem Optikerbesuch in falscher Sicherheit wiegt», sagt sie. «Die Gefahr einer Augenkrankheit kann trotzdem bestehen.»

Auch Visilab in Luzern machte eine heikle Aussage: Unschärfe am Abend sei normal. «Das kann man nicht sagen, solange das Auge nicht ärztlich untersucht wurde», sagt Augenärztin Federspiel.

Wie weit dürfen Optiker gehen? Der Schweizerische Optikerverband (SOV) sieht es weniger streng als der Verband der Augenärzte: «Der Optiker kann die Augendruckmessung vornehmen», sagt Dominic Ramspeck, Mediensprecher des SOV. Eine Diagnose stelle er damit nicht. «Die Augendruckmessung ist eine Dienstleistung im Sinne der Prävention.» Bei Auffälligkeiten überweise der Optiker den Kunden dem Augenarzt.

Davon hält Augenärztin Federspiel nichts: «Auch ein Patient mit einem ‹unauffälligen› Augendruck kann grünen Star haben. Es ist ungenügend und falsch, aufgrund nur einer Augendruckmessung zu sagen, der Zustand des Auges sei normal.»

Auch so geht den Optikern die Arbeit nicht aus: 58 Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer benötigen eine Sehhilfe. Die meisten haben eine Brille, auch wenn Kontaktlinsen immer beliebter werden. Im Durchschnitt gibt ein Schweizer Brillenträger jährlich 140 Franken für seine Brille aus. Die Brillenbranche setzt jährlich 750 Millionen Franken um. Diesen Kuchen teilen sich etwa 1000 Betriebe. Marktleader ist laut «Handelszeitung» mit 114 Millionen Franken Umsatz pro Jahr die Optikerkette Visilab, zu der auch Koch-Optik gehört – gefolgt von Fielmann, der 95,8 Millionen Franken pro Jahr umsetzt.

Neben solchen Riesen ist für kleinere Geschäfte der Kampf ums Überleben hart. Das bestätigt auch der SOV: «Für die Kleinen ist es schwieriger geworden», sagt Mediensprecher Ramspeck. Doch obwohl sie gelitten hätten, gäbe es immer noch etwa gleich viele Geschäfte. Ramspeck: «Individualität, Kompetenz und persönlicher Service sind vielen Kunden etwas wert.»

Die Grossen nehmens gelassen
Den Wettbewerbsdruck spürt auch der Kunde. Der kurzsichtigen Beobachter-Journalistin wurde zum Beispiel bei Ramstein Optik in Basel empfohlen, sich neue Brillengläser einsetzen zu lassen. Dies obwohl die Abweichung der neuen Korrektur zur jetzigen Brille nur gering war. Kostenpunkt: 419 Franken. «Bei Kurzsichtigen wird oft schon eine kleine Differenz als Verbesserung wahrgenommen», rechtfertigt Andreas Bichweiler, Inhaber von Ramstein Optik, die Empfehlung.

Zwei andere kleine Optiker präsentierten der Testkundin schon vor dem Sehtest mögliche Brillenmodelle – bevor sie wussten, ob eine neue Korrektur überhaupt nötig war. Auch das zeigt, unter welchem Verkaufsdruck die Optiker stehen.

Relative Gelassenheit können sich nur die grossen Geschäfte leisten. GrandOptical in Zürich hält es für «falsch», Gläser zu ersetzen, wenn es nicht nötig ist. «Wir sind bemüht, nur Brillen zu verkaufen, wenn wir vom Nutzen für den Kunden überzeugt sind. In diesem Fall hätte die Kundin keine Sehverbesserung erlangt.»

Die Grossen verlangten auch für den Sehtest weniger als die Kleinen. Visilab nahm gar nichts. Fielmann war günstig. Laut Geschäftsführer Thomas Löhr waren sogar die verrechneten 25 Franken zu viel. «Normalerweise bezahlen Sie nur, wenn auch eine Brille verkauft wird», sagt er.

Fielmann war übrigens der Einzige, der bei der Frage, welche Kosten die Krankenkasse übernimmt, patzte. Löhr will in Zukunft sein Personal besser schulen.

Kundenunfreundliche 70 Franken verlangte Götte – und rückte zudem als Einziger das Rezept nicht heraus. Das Rezept für die erste Brille holt man sich übrigens ohnehin am besten beim Augenarzt. Und sollte man am Ergebnis des Optikers zweifeln, ist man dort ebenfalls richtig.

Bei den Grossen Geld gespart, bei den Kleinen individueller bedient – so das Fazit der Testkundin. Wem die persönliche Bedienung weniger wichtig ist als das Portemonnaie, kann seine Brille bei einer Optikerkette erwerben.

Doch keine Regel ohne Ausnahme: Nicht alle kleinen Geschäfte sind aufs schnelle Geld aus. Dill Optik in Basel bot die kreativste Lösung an: Der Fachmann offerierte einen weiteren Termin, um die neuen Brillenwerte in der Abenddämmerung auszuprobieren – ohne Aufpreis.