Der Rest kann den Churern gar nicht genug Wurst sein. Nicht irgendeine, sondern Beinwurst. Schweinefleisch, Knorpelstücke, Gnagi, Schwanz, gehackt, geschnitten, gebeizt, dann in Kalbsdärme gefüllt und für zwölf Stunden in den mit Sägemehl gefütterten Räucherofen gehängt. 1879 fand der erste Beinwurstabend des Churer Männerchors statt, und die Delikatesse wurde damit aktenkundig. Noch heute jauchzen vor allem die Bündner Herrschaften vor dem kalorienreichen Vergnügen, während sich die Damenwelt mit diesem einstigen Arme-Leute-Essen stets etwas schwer tat. Das gut gewürzte Stück wurde im Bündner Hauptort trotzdem längst zur Königin der Würste geadelt. Doch die Churer Beinwurst wird heute nur noch von einem einzigen Metzger hergestellt. Und dieser hat vor allem um die Fasnachtszeit, dem Höhepunkt der Beinwurstsaison, alle Hände voll zu tun.

Die Beinwurst ist nur eine der kulinarischen Spezialitäten, denen Elisabeth Moser nachforscht. Als Beteiligte des Pilotprojekts «Kulinarisches Erbe der Schweiz» ging sie akribisch nach lokalem Speiseplan vor. Sie befragte den Müller von Poschiavo nach den Geheimnissen der Pizzoccheri, verfolgte die Engadiner Nusstorte an ihre Ursprünge zurück und fand heraus, dass ohne Kuhfleisch ein Salsiz zur Allerweltssalami wird.

So wie Elisabeth Moser machten sich Rechercheure aus einem Dutzend Kantonen auf die Suche nach regionalen Produkten, die in Vergessenheit zu geraten drohten. Sie alle schwärmten im Auftrag des Bundesamts für Landwirtschaft auf Alpen aus, sichteten Rezepte in Bibliotheken, schauten Metzgern über die Schultern und nahmen am Pilotversuch fürs «Inventar des kulinarischen Erbes der Schweiz» teil. Das Wissen über Herstellung und Verbreitung sowie Zubereitung von lokalen traditionellen Speisen soll da festgehalten werden. Das Inventar wird schliesslich etwa 600 Produkte umfassen.

Die Palette reicht vom Tessiner Alpkäse bis zu den Basler Läckerli, vom Sauerkraut aus dem Gürbetal bis zum Appenzeller Mostbröckli. «Wir möchten damit ein Bewusstsein für die Tradition dieser Produkte schaffen», sagt Isabelle Raboud-Schüle, die Präsidentin des Vereins «Kulinarisches Erbe der Schweiz».

Mit nostalgischer Rezeptsammlung hat das Projekt nur am Rand zu tun. Zwar hat das Bohren in kulinarischen Schichten und das Erfassen traditioneller Nahrungsmittel und ihrer Herstellungsformen historischen Wert an sich, doch der Zweck ist zukunftsgerichtet. «Wir möchten erreichen, dass sich die ins Inventar aufgenommenen Produkte besser verkaufen lassen. Und dank dem Prestige sollten sie höhere Preise erzielen», schildert Werner Mahrer von der Konferenz kantonaler Landwirtschaftsämter der Schweiz (Kolas) den langfristigen Zweck des auf vorläufig zwei Millionen Franken budgetierten Projekts.

Die Traditionen haben Zukunft


Vor allem Touristen sollen von Qualität und Tradition des schweizerischen regionalen Schaffens überzeugt werden. Dabei wird auch an den Export gedacht. Gleichzeitig wird ans eigene Land appelliert:

«Die Einheimischen sollen diese Produkte ebenfalls kaufen und auf sie stolz sein», wünscht sich Isabelle Raboud-Schüle, eine Walliserin, die hauptberuflich Kuratorin des «Alimentarium» in Vevey ist und als treibende Kraft hinter dem Projekt steht.

Die traditionellen Produkte erfreuen sich auf lokalen Märkten zunehmender Beliebtheit, hat Kathrin Streit, die sich als Bäuerin schon lange mit dem Thema befasst, festgestellt. Für die Zukunft glaubt sie gar an eine wesentliche Umsatzsteigerung. Denn auch die Grossverteiler sind zunehmend bereit, lokale Spezialitäten ins Verkaufsprogramm aufzunehmen, um sich damit von der Konkurrenz abzuheben.

Die Schweiz ist, wenns um wissenschaftliche Aufarbeitung und wirtschaftliche Vermarktung lokaler Gaumenfreuden geht, Entwicklungsland. Was ein sechs- bis achtköpfiges Team, in dem Ethnologinnen, Ernährungsspezialisten und kulinarische Praktikerinnen vertreten sind, im Herbst anpackt, ist in Ländern wie etwa Grossbritannien, Italien oder Frankreich längst verwirklicht. Selbst im nicht eben als Feinschmeckerhochburg geltenden Deutschland wurden bereits 300 Lokalprodukte zwischen zwei Buchdeckeln beschrieben.

Reisende und Touristen wunderten sich schon vor Jahren, wieso im kleinen Dorf am Gardasee oder im Provence-Nest in aparten Läden Dutzende von lokalen Spezialitäten stilvoll und äusserst appetitlich für gutes Geld angeboten werden, während man in der Schweiz so tat, als ob man sich des eigenen Schaffens schämte. Es war egal, ob eine Wurst aus dem Glarnerland oder dem Tessin kam. Und damals, als es noch die halbstaatliche Käseunion gab, hiessen die drei Sorten Emmentaler, Greyerzer und Sbrinz auf gut Verwaltungsdeutsch «Unionskäse», was namenstechnisch stets an eine volkseigene Milchverwertungsbrigade der DDR erinnerte.

Dass Kommunisten keine Kostverächter sein müssen, bewies Nationalrat Josef Zisyadis, der mit einem Postulat im Jahr 2000 den Stein fürs Projekt ins Rollen brachte und beim Bundesamt für Landwirtschaft 750000 Franken auslöste. Da wollte die Konferenz der Landwirtschaftsämter der Schweiz nicht abseits stehen und bewilligte eine weitere halbe Million.

In einer ersten vierjährigen Phase sollen die Produkte erfasst, analysiert, beschrieben und inventarisiert werden. Pro aufgenommenes Produkt rechnet man mit Kosten von etwa 1000 Franken. Zu einem grossen Teil werden das aus Milch hergestellte Produkte wie Käse sein, dann aber auch Würste und Trockenfleisch, Brot und Gebäck, Fruchtsäfte und gebrannte Wasser, Obst und Süssspeisen. Es sollen in erster Linie Produkte sein, die nicht zuerst gekocht werden müssen, sondern gleich konsumierbar sind. Auch muss das Produkt in genügender Menge hergestellt werden, seit mindestens 50 Jahren bekannt und in Läden zu kaufen sein. Die Zutaten müssen indes nicht alle auf heimischem Boden wachsen, sonst würden Pizzoccheri, für die das Buchweizenmehl aus Osteuropa oder China importiert wird, ausscheiden. Auch die Engadiner Nusstorte fiele durch den Raster. «Man kann die erfassten Produkte als traditionellen Schweizer ‹Convenience Food› bezeichnen, den man auch geniessen kann, wenn man wenig Zeit hat», erklärt Isabelle Raboud-Schüle.

Kulturgeschichte des Geniessens


Das Erfassen der Produkte ist ein Eintauchen in Geschichte, Kultur und Küche einer Region. Neben genauer Zusammensetzung, Varianten, Herkunft und Erwähnung in Kochbüchern und Literatur sollen auch Gebrauch, Kontext von Ernährungs- und Lebensgewohnheiten, Verwendung bei Festen und Feierlichkeiten sowie Produzenten und hergestellte Menge angegeben werden. «Wir möchten mit unserem Inventar, das sowohl in Buchform als auch im Internet abrufbar ist, auch ein Stück Kulturgeschichte vermitteln», erhofft sich Isabelle Raboud-Schüle. Die Rechercheure werden dazu Bäuerinnen und Käser befragen, werden Dorfmetzger heimsuchen, das Wissen von Köchinnen anzapfen und in alten Büchern stöbern.

Kathrin Schmid vom Amt für Landwirtschaft und Natur des Kantons Bern, die ebenfalls schon in der Pilotphase mitgearbeitet hat, liess einen Historiker in Kirchenchroniken nachschauen. Sie hat dabei herausgefunden, welche Nahrungsmittel früher verzehrt und verbotenerweise gegessen oder gar gestohlen wurden. Bei ihren Recherchen hat sie sich insbesondere mit dem Emmental befasst und festgestellt, dass die Emmentaler Bauern – wie von Jeremias Gotthelf beschrieben – zwar im Reichtum schwelgten. Doch der Überfluss schränkte ihre Kreativität bei der Herstellung und Konservierung ein. Sie schlemmten und zelebrierten laut Schmid das Essen ausführlich. Sie konnten sich gar teuren Luxus aus dem Ausland leisten und führten zum Beispiel aus Renommiersucht Safran aus Frankreich ein, um damit ein Schafsvoressen zu würzen. Schmid stellte aber fest, dass es nur wenige typische Produkte gibt, die ausschliesslich aus dem Emmental stammen – im Gegensatz zur Arme-Leute-Küche im Tessin oder im Bündnerland, die aus der Not eine Tugend machte.

Das «Inventar des kulinarischen Erbes» soll die Produzenten dazu motivieren, für ihre Produkte das AOC-Label, also die geschützte Herkunftsbezeichnung, zu beantragen, wie das für das Walliser Roggenbrot, den Rheintaler Ribel, das «Raclette du Valais» oder das Bündnerfleisch bereits gemacht wurde. Noch immer, so Werner Mahrer von Kolas, gibt es bei Produzenten regionaler Spezialitäten eine gewisse Naivität, indem sie sich nicht bewusst sind, dass alle ihre Produkte kopieren und unter den Namen – zum Beispiel Basler Läckerli – verkaufen können, wenn sie diese nicht schützen. «Das Ausland ist uns da etwa drei Schritte voraus», kritisiert Mahrer.

Nach Abschluss der vierjährigen Anlaufphase soll das Projekt – sofern es sich finanzieren lässt – weitergeführt werden. Dann sollen auch lokale Gerichte, die auf den schon erfassten Produkten basieren, Einzug ins Inventar finden.

Alte Gewohnheiten sterben langsam


Für Raphael Pfarrer von Slow Food, einer Organisation, die schon lange für die Vorzüge kulinarischer Traditionsprodukte wirbt, soll sich das Projekt letztlich auch in der Gastronomie niederschlagen. Er stellt zwar erfreut fest, dass schon heute rund 100 Schweizer Restaurants nach der Philosophie von Slow Food kochen, der langsamen, herkunftsbewussten Küche, die der unbedarften Schnellgastronomie den Kampf angesagt hat. Aber noch ist das Schweizer Gastrobewusstsein bei weitem nicht so gut entwickelt wie in Italien.

Mit Bedauern stellt Pfarrer fest, dass Gastrosuisse, der frühere Wirteverband, abseits steht. Er ist aber überzeugt, dass das Projekt auch in der Gastronomie mittelfristig auf grosses Interesse stossen wird. Dem entgegnet Gastrosuisse, dass «eine spezielle Kontaktnahme» noch gar nicht stattgefunden habe.

Vielleicht hilft ja das «Inventar des kulinarischen Erbes» mit, dass sich auf die Karte eines durchschnittlichen Berner Restaurants neben Schnipo und Spaghetti auch einmal ein Sauerkraut aus dem Gürbetal verirrt oder ein Zürcher Restaurant neben Emmentaler Käse vom Grossverteiler auch den «Sänneflade» aus dem Tösstal führt. Das Inventar soll aber nicht zur nationalistischen kulinarischen Nabelschau führen, sondern im Gegenteil auch den Wandel der Essgewohnheiten unter dem Einfluss der Migration dokumentieren und ebenso zum Nachdenken anregen, wie sinnvoll es ist, wenn wir Nahrungsmittel aus der ganzen Welt konsumieren.

Quelle: Archiv