«Du darfst ruhig etwas fester zuziehen», sagt Michèle Saxer. Die 23-Jährige steckt in einem lackschwarzen Korsett, das wieder in Form gebracht werden muss. «Eng ist es schon, aber man gewöhnt sich daran.» Grössere Mühe bereitet ihr der lange, zweischichtige Tüllrock: «Der Bund juckt.» Doch für eine Schlossparty ist es genau die richtige Robe.

Die Swiss Gothic Night ist in vollem Gang. Nur schon der Anblick der «Location» lässt Gothic-Herzen höher schlagen: Mächtig thront das Schloss Thun mit seinen vier Ecktürmen auf dem Stadthügel. Bei Tag urteilen hier die Bezirksrichter über Schuld und Unschuld. Jetzt beleuchten Fackeln feierlich den Schlosshof. Eine lange Treppe führt in den Rittersaal, der laut den Stadtbehörden als einer der «eindrücklichsten mittelalterlichen Profanräume der Schweiz» gilt.

Nahe dem Schloss, im Altstadtklub The Rock, spielen Live-Bands mit klingenden Namen wie The Beautiful Disease. Das «Dagoba», ebenfalls in der Thuner Altstadt, bietet eine Tanzfläche für Deutschrock-Anhänger. Der Rittersaal indes bleibt die Hauptattraktion. Hier legt der DJ düstere Musik auf. Im hohen Raum liegt der Geruch von Kerzenwachs. Man wähnt sich in einer Kirche, doch die einfachen Stühle an den Tischen erinnern eher an ein Vereinslokal. Schwarz sind alle Kleider, blutrot die verstreuten Rosenblätter.

Michèle bewegt sich locker-leicht in diesem Mikrokosmos, feiert, lacht, tanzt. Ebenfalls dabei ist Emmanuel Lebet, 33, Feinmechaniker bei der Luxusuhrenfirma Rolex. Er ist seit vielen Jahren in der Szene, er gehört dazu wie das Schwarz zur Gothic-Garderobe. «Gothic ist mein Leben», sagt er.

Auch der 38-jährige Bauingenieur Renato Kienberger ist hier. Der Beamte der Stadt Zürich schaut sich das schwarze Treiben distanziert an. «Ich diskutiere mit Freunden, höre den Bands zu.» Ein vielfältiges Völkchen, trotz striktem Dresscode.

Vier Stunden zuvor im Zug von Zürich nach Thun: Michèle sticht aus der Masse heraus. Ein junges Paar im gleichen Waggon mustert sie aufmerksam. Er lässt sich kurz von der Zeitungslektüre ablenken, senkt dann wieder den Kopf. Sie starrt, mit offenem Mund, ohne etwas zu sagen. «Kommentare in der Öffentlichkeit stören mich manchmal», sagt die Debitorenbuchhalterin Michèle, «vor allem wenn ich ‹Satansbraut› oder Ähnliches höre.» Oft fragen die Leute sie aber, warum sie so angezogen sei. «Älteren sage ich dann, ich gehe an ein Festli. Manche von ihnen finden meine Kleider sogar originell.»

In der Szene kann sie sein, wie sie ist
Schwarz ist für Michèle eine Farbe, mit der sie zeigen will, dass sie anders ist und sich abgrenzt von der so genannten Spassgesellschaft. Ihre Kleider bedeuten für sie Individualität. Mit Tod habe dies direkt nichts zu tun. Und doch hat die junge Frau bereits Erfahrungen mit den traurigen Seiten des Lebens machen müssen. Ihr Vater ist vor fünf Jahren gestorben. «Auf den Friedhof gehe ich nicht. Irgendwie kann ich das Ganze noch nicht fassen», sagt sie.

Michèle ist eine fröhliche Person, die viel lacht. Sie sagt von sich aber auch, sie sei sensibel, und: «Am liebsten würde ich jeden Tag in Irland auf einem Felsen am Meer sitzen und mir Gedanken über die Welt machen.» In der Szene fühlt sie sich wohl. So etwas wie eine kleine Familie sei das. «Ich kann so sein, wie ich bin.»

Einige ihrer besten Freundinnen gehören nicht zu den Gothics. Ihre Mutter akzeptiert Michèles Art zu leben. «Meine Mutter gehörte früher zu den Rockern und ging oft an Harley-Davidson-Treffen. Sie hat überhaupt kein Problem mit meinem Stil.» Den Grosseltern musste sie erst erklären, was Gothic ist und dass es nichts mit Satanismus zu tun habe. «Schwarze Magie und dergleichen finde ich unheimlich, damit kann ich gar nichts anfangen.» Nicht mal Horrorfilme schaut sich Michèle Saxer an. Zu gruselig für sie.

Ihre düsteren Vorlieben haben den Gothics den Ruf eingetragen, Teufelsanbeter zu sein, die in geheimen Ritualen Tieropfer darbringen und Blut trinken. Auch dies lässt sich in Thun nicht bestätigen. Das einzige tote Tier findet sich auf dem Grill vor dem Schlosseingang: ein Spanferkel. Daneben üben sich die Gothics im Bogen- und Armbrustschiessen.

Derweil spielen sich im Rittersaal romantische Szenen ab. «Ruhe im Saal!», ruft jemand. Ein Burgfräulein in opulentem Kleid hat etwas Wichtiges zu sagen. Der DJ stoppt die Musik. Die junge Frau hebt in einer unbekannten Sprache zu ihrem Vortrag an. Doch das Volk verhält sich wenig höfisch: Nach einem Moment der Stille beginnt es zu raunen, dann laut zu plaudern. Bald hat das Fräulein fertig referiert und übersetzt: «Du hast mir gezeigt, was Liebe ist.» Sagts und fällt dem Jüngling vis-à-vis um den Hals. Die Erklärung: «Das war ein Heiratsantrag auf Elbisch, der Sprache der Elben aus dem Fantasyroman ‹Der Herr der Ringe›.» Er hat Ja gesagt.

Aus den Lautsprechern säuselt nun «Shadow of the Moon», ein mittelalterlich angehauchtes Stück mit viel Hall und Flötenklang. Kitsch? «Nein», sagt Emmanuel Lebet. Für seinen Geschmack ist diese Schwelle noch nicht erreicht. Mit dem Spazierstock schreitet er zur Bar, bestellt ein Glas Met, Honigwein. Das süsse mittelalterliche Getränk ist nichts Neues für ihn. Er besitzt selbst einige Flaschen davon und passende Kelche aus Ton dazu.

Dank der Szene hat Emmanuel das Mittelalter entdeckt. Er liest historische Bücher, und an grösseren Veranstaltungen wie dem alljährlichen Wave-Gothic-Treffen in Leipzig besucht er mittelalterliche Märkte. Für Kleider gibt er dort jeweils bis zu 1500 Franken aus.

Gothic entstand aus dem Punk
Vor 15 Jahren begann sich Emmanuel für die Gothic-Szene zu interessieren. Mitten in Neuenburg war er zum ersten Mal Menschen begegnet, die sich in schwarze Gewänder hüllten und sich auffällig schminkten. «Ich war beeindruckt von dieser Ästhetik und der Eleganz», erzählt er. «Einer der Gothics hat mich sehr vornehm gegrüsst und vor mir sogar symbolisch den Hut gezogen.»

Zu jener Zeit, als 17-Jähriger, hatte er keine Ahnung von so genannt schwarzer Musik. «Der Typ hat mir viele verschiedene Bandnamen aufgezählt – aber ich kannte nur The Cure.» Die Begegnung wurde zum Schlüsselerlebnis für den Romand. «Es war, als hätte ich endlich gefunden, was ich schon so lange gesucht hatte.» Seither geht Emmanuel an jede Party, die irgendwo in der Schweiz stattfindet.

Vor 15 Jahren war die Gothic-Szene noch jung. Ursprünglich war sie Ende der siebziger Jahre in England aus der Punkbewegung entstanden. Die Gothics betonten aber eine romantischere Seite des Lebens: Ihre Rebellion war eine ästhetische. Das Melancholische und Tiefgründige interessiert sie. Und alles, was mit Mystik zu tun hat. Ihren Namen hat die Szene von den englischen Gothic Novels des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die wie Mary Shelleys «Frankenstein» Makabres und Geheimnisvolles beschreiben.

Erst zu Beginn der achtziger Jahre kam Gothic nach Kontinentaleuropa. Die Gruftis – unter diesem Namen waren die Gothic-Begeisterten damals im deutschsprachigen Raum bekannt – bezogen sich ausschliesslich auf die europäische Kultur: Kelten, Germanen, Mittelalter, Sagen, Hexen und Märchen. Immer wieder wurde Gothic totgesagt, doch die Szene und ihre Musik haben sogar den Technotrend überlebt. Wie viele Anhänger es in der Schweiz gibt, ist unbekannt – ihre Zahl wird grob auf 2000 geschätzt. In Thun treffen sich an diesem Abend rund 700 «Schwarze».

Nicht nur vom Mittelalter, auch von den Kelten und Germanen ist Emmanuel angetan. Er trägt einen Ring mit dem Runenalphabet. «Die Runen gehören zur nordischen Kultur.» Der Gothic-Szene wird wegen dieser Affinität immer wieder Nähe zum nationalsozialistischen Gedankengut vorgeworfen. Emmanuel weist dies von sich: «Wir sind absolut apolitisch.» Es sei schade, dass die heidnischen Symbole von den Nazis missbraucht worden seien.

Trotzdem gibt es Gothics, die gern Militäruniformen anziehen und Symbole verwenden, die allzu stark an den Nationalsozialismus erinnern, unter anderem die «schwarze Sonne». Die Nazis verstanden das archaische Zeichen als Symbol für die von ihnen angestrebte Weltordnung und ihre mystisch-esoterische Seite.

«Schaut etwas depressiver drein»
Der Berner Sozialarbeiter Franz Reber alias DJ Pàn ist ein Szenekenner und zeigt sich kritisch: «Gewisse Gothics haben ein naives Geschichtsverständnis», sagt er. «Sie gehen leichtfertig mit fragwürdigen Symbolen um.» Die Szenegänger würden gern mit ihrem Aussehen provozieren, und dies könne zu Missverständnissen führen. «Ich kenne jedoch niemanden, der politisch rechts steht.»

Im Schloss wirken Emmanuel und Michèle schon fast brav gekleidet neben einem jungen Mann, der problemlos als Double des Schockrockers Marilyn Manson durchgehen würde: lange schwarze Haare, kristallfarbene Kontaktlinsen, ein Tattoo quer über den Arm. Und Renato Kienberger könnte genauso gut in seinem Büro der Zürcher Stadtverwaltung sitzen: Mit seinem schwarzen Hemd und der dunklen Hose entspricht er nur entfernt dem Bild vom typischen Grufti.

Der 38-Jährige kennt die Szene schon lang. Sein Zugang ist die Musik: In den achtziger Jahren begann er, Synthesizer zu spielen. Nach einer längeren Pause stiess er 1998 zur Band Irrlicht. Die Texte ihrer Songs sind oft düster, unterlegt mit elektronischen Klängen. «Früher vertonten wir Lyrik», beschreibt Renato Kienberger seine Band, «heute machen wir Musik.» Als Dark Wave bezeichnet er diesen Stil, es geht um Themen wie Melancholie und Tod. Doch den Tod versteht der Keyboarder nicht nur physisch: «Jeder Abschied ist ein kleiner Tod, und es entsteht Raum für einen Neubeginn.»

Musik ist für den städtischen Beamten ein Lebensgefühl. «Ich definiere mich selbst über die Musik, bin aber nicht auf einen Stil fixiert.» Offen zu sein, habe er schon während seiner Pfadfinderzeit gelernt. Die Partys, die Band – für Renato ist das ein Hobby. Seinen Aufzug bezeichnet er als «gemässigt». Trotzdem fühlt er sich zugehörig. «In der Szene habe ich viele Leute kennen gelernt. Die Stimmung hier ist herzlich.»

Er tanzt nicht, stellt sich lieber in den Hintergrund, beobachtet. Das Rauchverbot im Saal kommt ihm und seiner Partnerin entgegen: Die beiden erwarten die Geburt des ersten gemeinsamen Kindes. Auch die Szene sieht Renato mit Distanz. «Hier verkehren Leute, die dem Schweizer Durchschnitt entsprechen.» Es sei alles friedlich, mit einer bestimmten Gesinnung habe das nichts zu tun. «Es gibt nichts Umwerfendes, nichts Gefährliches.»

Im Schlosshof sagt ein weiss gepuderter Mann mit knallroten Lippen zu seinen Begleitern: «Schaut etwas depressiver drein.» Als er sieht, dass er beobachtet wird, erklärt er: «Wir blödeln gerade», und entschuldigt sich zugleich für die heitere Stimmung. Schliesslich müssten Gruftis doch trübselig dreinschauen. Der Hofnarr erreicht das Gegenteil: Seine Begleiter im Schlosshof können sich das Lachen nicht verkneifen. Dass die Heiterkeit längst in der Szene Einzug gehalten hat, bestätigt auch Emmanuel: «Früher tanzten alle gegen die Wand oder gegen einen Pfosten. Heute tanzt man miteinander.»

Die Rosenblätter sind mittlerweile welk, die Kerzen heruntergebrannt. Doch Michèle und Emmanuel zeigen keine Ermüdungserscheinungen. Für sie ist die Party erst zu Ende, wenn sie wieder in ihren Alltag tauchen. Wenn Michèle als Debitorenbuchhalterin am Bürotisch sitzt und Emmanuel an Luxusuhren feilt.