Natalja ist 14 Jahre alt, wurde von ihren Eltern verlassen und leidet an Blutkrebs. Ihre pensionierte Oma hält sie mit einer bescheidenen Rente knapp am Leben. Mit einer geeigneten Behandlung werde sie wieder gesund, sagten die Ärzte dem verzweifelten Mädchen. Doch für die teuren Medikamente fehlt Natalja das Geld.

Valentina ist 45 und Mutter von zwei invaliden Kindern: Der jüngere Sohn hat einen Gehirntumor, der dringend entfernt werden müsste. Nur: Wie kann Valentina die Kosten für die Operation bezahlen, wenn sie kaum genug Geld besitzt, um die Familie vor dem Hungertod zu retten?

«Ich werde für Sie beten»
«Lieber Henri», «liebe Lisa» oder wie auch immer die in diesen Briefen Angeschriebenen in der Schweiz heissen mögen. «Ich flehe Sie an, mich nicht im Stich zu lassen und eine Spende zu überweisen. Ich werde für Sie beten und Gott für Ihre Barmherzigkeit danken», schreibt Natalja in perfektem Deutsch eigenhändig aus der Ukraine.

Das gleiche verspricht auch Valentina den Briefempfängern und dankt ihnen zum voraus für ihr «warmes Herz». Wen die ergreifenden Worte nicht erweichen, wird durch die beigelegte Schwarzweissfoto von Mitleid gepackt. Sie zeigt eine besorgte Mutter am Krankenbett ihres Kindes. Die zwei Leidenden trennt ein Ständer, an dem ein Infusionsbeutel hängt.

«Machen Sie sich zum Lebensretter, und auch Ihr Leben wird dadurch reicher und schöner», schreibt Sergej Gerasjuta, Leiter der Aktion «Weg zur Rettung», im Begleitbrief zum Hilfeschrei von Natalja und Valentina. Der Einzahlungsschein liegt bei.

Marc Bonnet, verantwortlich für Hilfsprogramme in Kambodscha von «Handicap International», versucht mit der traurigen Geschichte von Pom Tyana Leute zum Spenden zu ermuntern. Dem elfjährigen kambodschanischen Jungen habe eine explodierende Antipersonenmine das rechte Bein abgerissen, schreibt er in seinem Brief, den unzählige Schweizer und Schweizerinnen in den letzten Wochen aus dem Briefkasten fischten.

Noch mehr tragische Geschichten
Heute habe Pom Tyana mit einer Prothese von «Handicap International» wieder gehen gelernt, berichtet Marc Bonnet im herzzerreissenden Schreiben. Damit die tragischen Umstände bei den Briefempfängerinnen auch visuell rüberkommen, enthält das persönlich adressierte Luftpostkuvert auch das Bild eines Minenopfers. Darauf wird das fehlende Bein durch eine aufgeklebte Krücke aus Bambus ersetzt. «Diese werden von einer Gruppe von alleinstehenden Frauen angefertigt, die auf diese Arbeit angewiesen sind, um ihre Familien zu ernähren», heisst es im Brief.

Tragisch ist auch die Geschichte der 15-jährigen Jacqueline und der 17-jährigen Rosemary aus Uganda. Im handgeschriebenen Brief schildern sie ihre Notlage: Beide haben bei einem Autounfall ihre Eltern verloren. Und wer bezahlt nun die hohen Studiengebühren, die mit der beigelegten Einschreibebestätigung der Schule nachgewiesen sind? Hoffentlich die barmherzigen Briefempfänger in der Schweiz, die «Gott für den Rest ihres Lebens segnen wird.»

«Ich finde es zum Kotzen, mit welch fiesen emotionalen Attacken heutzutage um Spenden gebettelt wird», findet eine Beobachter-Leserin aus Basel zu den persönlich adressierten, von Hand geschriebenen Bettelbriefen aus dem Ausland. Sie möchte – wie viele andere Leute – durchaus Geld für Menschen in der Not spenden. Doch welche Organisationen oder Hilfswerke arbeiten seriös? Welche Projekte sind unterstützungswürdig? Und überhaupt: Kommt das Geld tatsächlich dem Bestimmungszweck zu oder bereichert sich irgendjemand schamlos daran?

Engagement allein ist keine Hilfe
Antworten auf diese Fragen kann bei unbekannten Privathilfswerken oft niemand geben. Was unterstützungswürdig ist, müssen Spendenwillige selbst entscheiden. Zu bedenken ist, dass ehrenamtliche Arbeit und ein starkes Engagement für Menschen in Not allein noch keine Garantie für effiziente und sinnvolle Hilfe vor Ort ist. Gutgemeinte Hilfsaktionen von unbekannten Laien scheitern vielfach auch an fehlender Professionalität oder Transparenz.

Das zeigt sich am Beispiel der Aktion «Weg zur Rettung». Sergej Gerasjuta führte schon vor vier Jahren eine ähnliche Aktion durch – und zog dabei das Misstrauen einiger Briefempfänger auf sich. Dies führte sogar zu einer Voruntersuchung vor dem Untersuchungsrichteramt von Bern. Dem Beobachter fiel Sergej Gerasjuta ein Jahr später mit Briefen und Fotos von schwangeren Ukrainerinnen in Geldnöten auf, die um Unterstützung baten. Erneut hatte Gerasjuta die Adressen der Angeschriebenen dem Telefonbuch entnommen.

«Weil Herr Gerasjuta mit den schweizerischen Verhältnissen nicht genügend vertraut war, blieb die Aktion teilweise zu wenig transparent», musste selbst der von Gerasjuta eingeschaltete Anwalt 1997 zugeben. «Der Verein wird sich in Zukunft jedenfalls um Transparenz bemühen und die Zusammenarbeit mit einer schweizerischen Partnerorganisation suchen.» Das hat Gerasjuta offenbar bis heute nicht geschafft.

Da Gerasjutas «Weg zur Rettung» kein Verein nach Schweizer Recht ist, kann er bei der Zentralstelle für Wohlfahrtsunternehmen (Zewo) kein Gütesiegel beantragen. Er hätte auch sonst keine Chance, dies zu bekommen. «Die Professionalität ist zweifelhaft, die Transparenz ungenügend, die Einzelfallhilfe fragwürdig», sagt Isabelle Merk, Geschäftsleiterin der Zewo, zum «Weg zur Rettung». «Zudem lehnen wir solch erpresserische Spendenaufrufe ab, bei denen Spendende für Tod und Leben des Hilfesuchenden verantwortlich gemacht werden.» Weniger hart kritisiert Isabelle Merk das Vorgehen von «Handicap International». Doch auch hier findet sie die Werbung zu emotional, die Rechnungslegung zu wenig aussagekräftig und die Krückenbasteleien als Beschäftigung für wenig sinnvoll. «Die Kosten für Marketing und Verwaltung sind mit 43 Prozent des Gesamtertrags zudem enorm hoch.»