Schulden ohne Ende
Das Konsumkreditgesetz soll vor Überschuldung schützen – doch das Geschäft mit dem schnellen Geld läuft ungebremst weiter. Jetzt wollen auch die Kantonalbanken mitmischen.
Veröffentlicht am 25. April 2005 - 10:02 Uhr
War es Mord oder Notwehr? Carlo Seda (Namen geändert) sass im Untersuchungsgefängnis von Sevilla und beteuerte, sich nur verteidigt zu haben. Niemand glaubte ihm. Da engagierte seine in der Schweiz lebende Familie einen der besten Anwälte. Doch «el abogado» rührte keinen Finger, solange der Kostenvorschuss von 15'000 Franken nicht auf seinem Konto verbucht war. So ging Carlos damals 20-jährige Schwester Esmeralda zur Bank Prokredit. Diese gewährte der ungelernten Fabrikarbeiterin den Kredit problemlos.
Das Gerichtsverfahren zog sich hin, die Kosten stiegen, Carlo wurde trotz Staranwalt zu 16 Jahren Gefängnis verurteilt – und Esmeralda sitzt heute vor einem Scherbenhaufen: Ihre Schulden belaufen sich auf fast 50'000 Franken. Sie ist psychisch wie physisch so krank, dass sie nicht mehr arbeiten kann. Jeden Monat zahlt sie 1000 Franken an ihre heutige Bank, die Credit Suisse, aber die Schuld wird wegen der hohen Zinsen kaum kleiner.
20-jährig, 90'000 Franken Schulden
Wie Hohn wirkt auf die junge Spanierin der Werbespruch eines Konsumkreditanbieters: «Für Menschen mit mehr als einem Traum.» Sie hatte einst viele Träume, wollte Hebamme werden und eine Familie gründen. «Heute träume ich von einem Baum mit abgesägten Ästen: keine Zukunft, kein Hobby, kein Ausgang, keine neuen Kleider, kaum mal ein Stück Fleisch zum Essen.» Für Esmeraldas Therapeutin Yolanda Vieli handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Immer häufiger kämen junge, komplett verschuldete Leute mit Stresssymptomen wie Schlaflosigkeit und Arbeitsplatzproblemen zu ihr.
Dabei sollte das seit zwei Jahren geltende Konsumkreditgesetz vor Überschuldung schützen. Es schreibt vor, dass ein Kredit nur gewährt werden darf, wenn die Tragbarkeit gesichert ist; potenziell gefährdete Personen würden dank einer umfassenden Prüfung der Kreditfähigkeit frühzeitig erkannt. Die Realität ist eine andere: «Da bekommt zum Beispiel ein 19-jähriger Familienvater einen Leasingvertrag für einen 45'000 Franken teuren BMW! Jetzt sitzt er total verschuldet bei mir im Büro», erzählt Felix Hof, Leiter der regionalen Jugendberatungsstelle in Jona. Und auch Charly Gmür von der Luzerner Fachstelle für Schuldenfragen ist um ein typisches Beispiel nicht verlegen: der knapp 20-jährige Ferdinand, der es mit einem Monatseinkommen von 5000 Franken schafft, innerhalb von zwei Jahren 90'000 Franken Schulden anzuhäufen – ohne dass etwas Spektakuläres passiert ist. Nur eine eigene Wohnung, ein grosses Bett, ein Auto. Doch dann kommen die Steuern, die Krankenkassenprämien, die Versicherung, Handykosten, Kundenkartenrechnungen und die Kreditzinsen.
Jürg Gschwend, Präsident des Dachverbands Schuldenberatung, bestätigt, dass die Überschuldung trotz Gesetz weiter zunimmt. Er prognostiziert, dass «ohne Gegenmassnahmen die Zahl der Jugendlichen, die mit 25 Jahren vor einem grossen Schuldenberg stehen, in den nächsten fünf bis zehn Jahren erschreckende Dimensionen erreichen wird – so wie in den USA». Denn die Kreditfähigkeitsprüfung erfülle ihren Zweck nur ungenügend. Sie berücksichtigt nämlich nicht alle Kostenfaktoren, wie beispielsweise die Benzin- und Unterhaltskosten sowie die Vollkaskoversicherung für ein geleastes Auto.
Und ist eine Bank freiwillig restriktiv, «nimmt eine andere den Kunden mit Handkuss», wie Mario Brandenberg von der Raiffeisen Finanzierungs AG schon wiederholt festgestellt hat. Vor allem an Jugendliche unter 25 Jahren vergibt die Raiffeisenbank selten Kredite und wenn, dann nur kleine. Bezeichnenderweise liegt die Ablehnungsquote für Privatkredite der Raiffeisenbanken bei über 60 Prozent. Derweil macht der Anteil abgelehnter Anträge im schweizerischen Durchschnitt nur gerade 26,4 Prozent aller Gesuche aus.
Alle wollen eine Scheibe abschneiden
Daran dürfte sich künftig kaum etwas ändern, denn die Konkurrenz wächst. Bisher wurde der Zehn-Milliarden-Markt mit den beiden etwa gleich grossen Segmenten Konsumkredit und Autoleasing von der GEFS (Suisse) AG dominiert, die mit den beiden Marken GE Money Bank und Prokredit auftritt. Bedeutende Anbieter sind ferner Credit Suisse und Migros-Bank. Zur dritten Kraft will nun die neu gegründete Cashgate AG aufsteigen. Dahinter stehen die Zürcher Kantonalbank, die Valiant Holding sowie die Kantonalbanken von Graubünden, Schwyz und Thurgau.
Dem neuen Gesetz sei Dank: «Es hat das Geschäft mit Konsumkrediten und Leasing salonfähig gemacht, weil es scheinbar gute Rahmenbedingungen setzt», sagt Jürg Gschwend. Und Cashgate-Sprecherin Elke Zappe bestätigt, dass «dieses Segment nun besser zur Unternehmensphilosophie einer Kantonalbank passt». Dabei frage man sich auch: «Wollen wir potenzielle Privatkreditkunden weiterhin der Konkurrenz überlassen oder selber betreuen?»
Offenkundig ist, dass die Banken ihren Kunden heute die ganze Palette von Möglichkeiten anbieten wollen. Dazu zählen auch Kundenkarten mit Kreditoptionen (wie Ratenzahlungen): Warenhäuser, Möbelgeschäfte und andere Firmen bieten solche Zahlungsmodalitäten mit den Banken im Rücken an. Wie die Zentralstelle für Kreditinformation registriert hat, gibt es überdies eine Verlagerung der Verschuldung hin zu Überziehungskrediten, auch Kontokorrent genannt. Solche Kredite ermöglichen den Bankkunden, innerhalb der festgelegten Limite laufend Geld zu beziehen. Die GEFS gewährt 10'000 Franken und mehr – bei einem Zins von 6,5 bis 11,95 Prozent. Die monatliche Mindestrückzahlung beträgt gerade mal 1⁄48 des überzogenen Betrags.
Jugendliche vor sich selber schützen
«Das führt tatsächlich zu einer ‹langjährigen Partnerschaft›, wie die Werbung verspricht», stellt die CVP-Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatz ironisch fest. Sie fordert, dass Institute, die Konsumkredite an unter 25-Jährige vergeben, ein Sozialschutzkonzept erstellen müssen. Doch der Bundesrat hält nichts von einer Gesetzesverschärfung: «Personen, die das 18. Altersjahr vollendet haben, sind nach dem Gesetz mündig.» Und also selbst verantwortlich. Mit der gleichen Argumentation dürfte er aber – so Meier-Schatz – auch kein Sozialschutzkonzept bei den Spielbanken fordern. «Und im Strassenverkehr wären demnach Schutzmassnahmen für Junglenker nicht mehr notwendig!»
In der Tat macht es sich unsere Regierung einfach. Studien zeigen, dass 80 Prozent der über 25-jährigen Schuldner ihre ersten Schulden schon früher gemacht haben. Später können sie dann Steuern und Krankenkasse nicht mehr bezahlen oder werden von der Sozialhilfe abhängig. «Es geht nicht, dass die Banken massive Gewinne einstreichen und die Gesellschaft die Zeche zahlt. Ich will die Banken in die Verantwortung einbeziehen», sagt Lucrezia Meier-Schatz und fügt hinzu: «Ein bestimmter präventiver Schutz ist nötig, ob das dem Bundesrat passt oder nicht.»
Vorsicht, Schuldenfalle!
Die häufigsten Auslöser einer Verschuldung – und wie man sie vermeidet:
- Autoleasing: Erst ein Auto kaufen, wenn es der Kontostand erlaubt. Bei Barzahlung gibt es sogar Rabatt. Bei einem Leasingvertrag: Nebenkosten beim Budget einberechnen!
- Wohnen: Hier gilt die Faustregel Wohnkostenanteil = maximal 30 Prozent des Haushaltbudgets. Beim Erwerb von Wohneigentum: im Finanzierungsmodell einen möglichen Anstieg der Hypothekarzinsen einkalkulieren.
- Steuern: Jeden Monat eine fixe Summe auf ein separates Steuerkonto einzahlen – oder direkt ans Steueramt überweisen. Der Fiskus zahlt in den meisten Kantonen höhere Zinsen als die Bank.
- Kredit- oder Kundenkarte: Hände weg von Teilzahlungsoptionen. Wer nicht in geordneten finanziellen Verhältnissen lebt, sollte gar nicht erst anfangen, mit Kredit- oder Kundenkarten zu zahlen.
- Krankenkasse: die Notwendigkeit allfälliger Zusatzversicherungen überprüfen. Prämien vergleichen und zu einer günstigen Krankenkasse wechseln: siehe www.comparis.ch
- Handy: Mit einer Prepaidkarte den Kostenüberblick bewahren. Preise der Telefonanbieter vergleichen: siehe www.comparis.ch