Da steht sie, leibhaftig: Betty Bossi, die Köchin der Nation und Schutzheilige aller Rezepte. 92 Jahre alt, stilvoll von Kopf bis Fuss. Entschuldigt sich, dass es einige Sekunden gedauert hatte, bis sie den Türöffner betätigte: «Ich bin halt nicht mehr die Schnellste.»

Sie lacht. Wie sie auch lacht, als sie die Betty-Bossi-Produkte sieht, die der Besucher mitgebracht hat: ein Dreieck-Sandwich mit Frischkäse, Penne-Salat, Pilzragout. Alles sauber verpackt in festem Plastik oder Karton. «Betty Bossi Frisch-Convenience» heisst die Linie, mit der Grossverteiler Coop, seit 2001 Mitbesitzer von Betty Bossi, letztes Jahr 360 Millionen Franken umsetzte.

«Natürlich haben diese Produkte nicht mehr viel mit der ursprünglichen Idee von Betty Bossi zu tun», sagt Emmi Creola alias Betty Bossi gelassen. «Aber es gibt immer mehr berufstätige Mütter und Singles. Und die können sie sicher brauchen.»

Bald 50 Jahre sind es her, seit die Idee zu Betty Bossi entstand. Emmi Creola arbeitet als Texterin in der Werbeagentur Lintas. Wie jedes Jahr sind Einfälle gefragt für die Absatzförderung von Astra-Ölen und -Fetten. Sie schlägt einen Beratungsdienst für Hausfrauen vor. Nach anfänglichem Widerstand setzt sie sich durch.

Als es um den Namen geht, nimmt Emmi Creola das Genfer Telefonbuch zur Hand. Dort fällt ihr auf, wie viele Bossi es gibt. Zudem hat sie eine Bekannte, die so heisst. Der Name lässt sich ausserdem in allen vier Landessprachen gleich gut aussprechen. Also setzt sie ihn zuoberst auf die Liste. Den Vornamen entlehnt sie dem amerikanischen Vorbild für ihren Beratungsdienst: Betty Crocker, die im Auftrag des Nahrungsmittelkonzerns General Mills Koch- und Ernährungstipps abgibt.

Doch da gibt es noch ein kleines Problem: Ihr Chef will nicht Emmi Creola zu Betty Bossi machen. «Eine Hausfrau finde ich leichter als eine neue Texterin», teilt er ihr mit. Doch auch hier setzt sie sich durch. Am 1. April 1956 erscheint die erste «Betty Bossi Post», Untertitel: «Beratung für praktisches Kochen und Haushalten». Eine einzige Zeitungsseite, beidseitig schwarz-weiss bedruckt, in Deutsch und Französisch. Die Zeitung liegt gratis in Lebensmittelgeschäften auf. Der Inhalt besteht aus Rezepten, der «Wunschecke», dem «Betty Bossi Briefkasten», der «Kinder-Post», dem «Menü-Sparplan für eine Woche» – und hemmungslos viel Werbung für die Astra-Öle und -Fette. Damit alles möglichst authentisch wirkt, sind die Leitartikel handschriftlich signiert: «Mit freundlichen Grüssen. Ihre Betty Bossi.» Der Schriftzug stammt von Emmi Creola und ist seither unverändert geblieben.

Betty, warum werden die Plätzli zäch?


«Was soll ich heute kochen?» stand über dem ersten Leitartikel. «Es war die Frage, die sich jede Frau zweimal täglich stellte», sagt Emmi Creola – damals waren die Rollen klar verteilt: «Sehr geehrte Frau Betty Bossi, weshalb werden meine Plätzli immer so zäch? Hochachtungsvoll, E.B. aus Z.». M.L. aus O. möchte von ihrem Mann «unbedingt eine 6» für ihre Kochkünste. Und V.S. aus A. will nicht länger ihrer Schwiegermutter unterlegen sein: «Ich habe meinem Mann versprochen, dass der nächste Braten genau so gut ist wie ihrer.»

Betty Bossi weiss Rat und sichert den Familienfrieden. Zu Weihnachten erhält sie einen Tannenzweig, geschmückt mit Zettelchen und guten Wünschen fürs neue Jahr: ein Zettelchen für «Frau Betty Bossi», eines für «Vater Bossi», eines für die «Kinder Bossi». Vor den Aussendienstmitarbeitern von Astra spricht Frau Creola als Betty Bossi. Sie sind überzeugt, die Köchin der Nation vor sich zu haben. Wie deren Schöpfer und Hüter darauf bedacht sind, auch das Publikum im Glauben zu lassen, es gebe Betty Bossi leibhaftig.

Betty geht in den Volksmund ein


Emmi Creola lebte ein völlig anderes Leben als die Frauen, für die sie schrieb. Sie wuchs zusammen mit einem Bruder in Zürich auf, der Vater war «Sous-Chef» im Hauptbahnhof, die Mutter Hausfrau. Nach der kaufmännischen Ausbildung in einem Reklamebüro holte sie an einer Abendschule die Matura nach und studierte an der Universität Zürich Germanistik. «Ich war einfach wissensdurstig», sagt Emmi Creola. Mit der Heirat brach sie das Studium ab und war, bis auf wenige Jahre, immer zu 100 Prozent erwerbstätig. Sie zog drei Kinder gross und pflegte mit ihrem Mann Haus und Garten. Umso leichter fiel es ihr, loszulassen, als sie sich Ende 1971 frühzeitig pensionieren liess: «Ich war völlig ausgebrannt und gesundheitlich angeschlagen.»

Der Siegeszug der Marke Betty Bossi wird davon nicht gebremst. 1973 erscheint das erste Kochbuch, genauer: das «BackBuch». Jährlich folgen zwei bis fünf weitere. Die Zutaten für die Rezepte, deren Darstellung, die Anleitungen, die Bilder, die Spiralbindung – alles ist darauf ausgerichtet, die Kreationen mit Leichtigkeit zum Gelingen zu bringen. Betty-Bossi-Rezepte werden zum Synonym für einfache Lösungen. Am Stammtisch wie in der Politik verlangen Männer danach – die meisten freilich ohne zu wissen, ob die Rezepte auch tatsächlich einfach sind und garantiert gelingen.

1977 emanzipiert sich die virtuelle Köchin der Nation vom Mutterhaus und von dessen Produkten – aus der Zeitung und den Kochbüchern wird ein eigenständiges Unternehmen, der Verlag Betty Bossi. Von da an geht es sprunghaft vorwärts. Es kommen Kochkurse hinzu, ausserdem Koch- und Haushaltgeräte. Die Auflage der Zeitung, die seit 1993 schlicht «Betty Bossi» heisst, wächst auf über 900000 Exemplare. Und pro Jahr werden rund eine Million Kochbücher verkauft.

90 Prozent der Menschen in der Schweiz kennen Betty Bossi, ein Wert, den Bundesräte und -rätinnen höchstens am Tag ihrer Wahl erreichen. Und wohl 100 Prozent haben schon nach einem ihrer Rezepte gekocht – die seit jeher in Teamarbeit entstehen – oder ein Gericht gegessen, das mit Betty Bossis Hilfe zubereitet wurde.

Ende der neunziger Jahre pendelt sich der jährliche Umsatz bei 65 Millionen Franken ein, das Potenzial scheint ausgeschöpft. Das Medienunternehmen Ringier, dem Betty Bossi seit 1995 gehört, hält nach einem Partner Ausschau. Im November 2001 ist dieser gefunden: Coop übernimmt die Hälfte von Betty Bossi. In der Medienmitteilung liest sich das so: «Für Coop entspricht die Unternehmensphilosophie von Betty Bossi in idealer Weise den im Coop-Leitbild festgelegten Missionen Lebensfreude, Convenience, Gesundheit, Dynamik und Frische.»

Bettys Food schmeckt nicht mehr allen


Mitte 2002 startet der Grossverteiler die Frisch-Convenience-Linie von Betty Bossi: Fertig- und Halbfertigprodukte, «die grösstmöglichen Genuss bieten», so die Eigenwerbung. Mittlerweile sind es 600 Artikel, mitsamt dem Kochbuch «Die blitzschnelle Küche – Rezeptideen mit frischen Fertigprodukten».

Die Neuausrichtung gefällt aber nicht allen: «Die Marke erinnert immer stärker an Industrie statt an Natur», mäkelt ein Gault-Millau-dekorierter Koch, der ungenannt sein möchte, weil Betty-Bossi-Mitbesitzer Ringier auch den Restaurantführer Gault-Millau herausgibt. «Eine gute Küche lebt von exquisiten Rohmaterialien: Je natürlicher diese Zutaten sind, desto besser das Ergebnis – für den Gaumen wie fürs Auge. Davon ist bei Betty Bossi nur wenig geblieben.» Zudem seien viele der heutigen Rezepte zu verspielt und überladen, der Geschmack der einzelnen Lebensmittel gehe dabei unter.

Annemarie Lüdi, Dozentin für Hauswirtschaft an der pädagogischen Hochschule in Bern, tut sich ebenfalls schwer: «Mir leuchtet nicht ein, was ein in Plastik verpacktes Schinkensilserli mit der einstigen Idee von Betty Bossi zu tun hat.» Und die Bäuerin Anny Diener, eine jahrzehntelange Weggefährtin von Betty Bossi, will nicht auf Halbfertigprodukte angewiesen sein: «Ich möchte saisongerecht kochen, mit möglichst vielen natürlichen Zutaten – das wird immer schwieriger.»

Die Verantwortlichen sehen das weit gelassener: «Ich bin jetzt auch Ravioliverkäufer und fühle mich wohl dabei», sagte Verleger Michael Ringier der Kommunikationszeitschrift «Persönlich» im Mai. «Wir können mit dem ‹Blick› oder der ‹Schweizer Illustrierten› nichts Zusätzliches verkaufen.»

Ähnlich tönt es bei Betty Bossi. «Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass weniger und oft nur noch am Wochenende nach Rezept gekocht wird», erklärt Geschäftsführer Walter Lüthi. Somit habe die Frage gelautet: Wie wird Betty Bossi wieder jeden Tag ein Thema in der Küche? «Mit Frisch-Convenience haben wir eine Antwort gefunden: Von Fruchtsäften über Salate, Gemüse, Pasta und Sandwiches bis zur Pizza werden alle Mahlzeiten abgedeckt – und fürs Wochenende die Rezepte.»

Der Gault-Millau-Koch bleibt bei seinem Urteil: «Die Entwicklung geht zulasten der Esskultur.»

Betty isst Pilzragout statt Spiegeleier


Und Emmi Creola alias Betty Bossi? Sie mag sich nicht auf Diskussionen einlassen. Zumal sie der Meinung ist, mit ihrer damaligen Idee nichts Ausserordentliches geleistet zu haben: «Ich war ja dafür angestellt, neue Einfälle zu haben.» Sagt es, lacht einmal mehr hell auf und greift sich das mitgebrachte Betty-Bossi-Pilzragout: «Das mache ich mir jetzt anstelle der Spiegeleier, die geplant waren.»