«Spinnen die?!» – das war mein erster Gedanke, als ich sah, wie ein anderes Flugzeug knapp an uns vorbeischoss. Der zweite war: «Puh!»

Es war Sonntag, der 4. Oktober 2009, zirka 16 Uhr, als ich im Flugzeug von Berlin nach Zürich sass und gerade ziemlich glücklich war: Meine Eltern, mein Bruder, seine Frau und ich hatten schöne Tage mit dem Rest der Familie in Berlin verbracht, ich war etwas müde und freute mich, bald zu Hause zu sein.

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Noch rund 20 Minuten, bis wir in Zürich landen würden. Beiläufig sah ich aus dem Fenster – und war schlagartig hellwach: Aus der Wolkendecke unter uns tauchte plötzlich eine andere Passagiermaschine auf und raste schräg an uns vorbei. Als sich meine Finger reflexartig in die Armlehnen krallten, war schon alles vorbei. Das Ganze hatte keine Sekunde gedauert. Dieses Tempo war wirklich gewaltig – eine irre Power.

Ich sah mich um: Niemand schien das bemerkenswert zu finden. Meine Sitznachbarin blätterte unbekümmert in einer Zeitschrift. Ich versuchte mich zu beruhigen: Vielleicht ist das ja normal. Vielleicht machen die das immer so. Aber etwas in mir hörte nicht auf zu japsen: «Boah – war das knapp.»

Entsetzte Pilotengesichter

Mein Vater ist seit bald 40 Jahren leidenschaftlicher Freizeit-Pilot und weiss, was im Luftraum üblich ist. Nur zu gerne hätte ich ihn sofort gefragt, ob das alles seine Richtigkeit hat. Aber Eltern wie Bruder sassen zu weit weg. Und ich konnte ja schlecht quer durchs Flugzeug rufen: «Habt ihr das auch gesehen? Ist das normal, dass zwei Passagiermaschinen in ein paar Metern Abstand aneinander vorbeifliegen?»

Frei geschätzt würde ich auf 30 oder 40 Meter tippen. Vielleicht waren es auch 50. Eventuell aber auch nur zehn – meine Vorstellung von Distanzen wird nicht präziser, wenn gerade ein Jet auf mich zurast. Aber es war – für Luftraumdimensionen – auf alle Fälle verdammt dicht. Das war so dicht, dass ich glaubte, im Cockpit des entgegenkommenden Flugzeugs entsetzte Pilotengesichter gesehen zu haben. Nach so einer «Begegnung» erwartet man irgendwie irgendwas. Ich weiss auch nicht genau, was – aber man kann doch nicht so tun, als wäre nichts passiert. Wobei: Es ist ja tatsächlich nichts passiert.

Als ich nach der – sicheren – Landung in die Gepäckhalle kam, warteten meine Eltern, mein Bruder und seine Frau bereits. Betont unaufgeregt fragte ich, ob einer von ihnen das vielleicht auch gesehen habe, doch nur meine Schwägerin bejahte – froh, ihre Beobachtung bestätigt zu bekommen, nachdem mein Bruder schon an ihrer Wahrnehmung gezweifelt hatte.

Mein Vater meinte, unseren Schilderungen zufolge müsse das wohl ein «near miss» gewesen sein. Oder wie das Büro für Flugunfalluntersuchung es nennt: eine «Annäherung zwischen Flugzeugen», ein sogenannter Airprox. Denn Passagiermaschinen hätten in der Flughöhe immer mindestens 1000 Fuss Abstand zueinander zu halten. Das entspricht etwa 300 Metern.

Das Ganze müsste sich der Flugroute entsprechend noch über Deutschland abgespielt haben, vermutlich im Raum Stuttgart. Das passt zu dem, was ich gesehen hatte: Es hatte gewirkt, als sei das andere Flugzeug vor kurzem erst gestartet, es kam von unten und flog dann schräg an uns vorbei. Stuttgart hat einen Flughafen.

Einige Zeit später erkundigte ich mich bei der deutschen Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung, ob für das fragliche Datum eine Airprox-Meldung eingegangen ist. Man suchte und guckte, verband mich weiter und verneinte schliesslich. Vorsichtshalber fragte ich auch beim Schweizer Büro für Flugunfalluntersuchungen nach. Doch auch da wusste man von nichts.

Man versicherte mir, dass demnach der Sicherheitsabstand von 300 Metern ganz bestimmt zu keiner Zeit unterschritten worden war, sonst wäre das gemeldet worden. Hm! Ich führe mir das also nochmals vor Augen: 300 Meter Höhe erreicht man, wenn man zum Beispiel 2,4-mal den in Zürich geplanten Prime Tower aufeinanderstapelt, das künftig höchste Gebäude der Schweiz. Ein Gefühl für 300 Höhenmeter bekommt man auch, wenn man sich den Pariser Eiffelturm anschaut, der mit 325 Metern nur wenig höher ist. In dieser fraglichen Sekunde hätte – nach meiner Wahrnehmung – kein Eiffelturm zwischen die beiden Flugzeuge gepasst. Weder hoch noch quer. Beide Behörden erklärten mir auch übereinstimmend, dass, wenn sich zwei grosse Flugzeuge kreuzen, 300 Meter Abstand durchaus den Eindruck erwecken können, man sei einander sehr nahe gekommen.

31 Mal «erhöhtes Risiko»

Das mag so sein. Aber ich weiss, was ich gesehen habe: Das war nicht «sehr nahe», das war verdammt nahe.

Gemäss Sicherheitsbericht des Bundesamts für Zivilluftfahrt wurden vergangenes Jahr in der Schweiz 63 Airproxes gemeldet. Davon 31 «mit erhöhtem Risiko». Das ist ja wirklich nicht viel – allein auf dem Flughafen Zürich starten und landen täglich über 700 Flugzeuge. Und es fliegen ja tatsächlich glücklicherweise sehr selten Flugzeuge ineinander rein.

Voraussichtlich im Dezember fliege ich wieder nach Berlin. Aber ich denke, diesmal werde ich ein gutes Buch mitnehmen und darauf verzichten, während des Fluges rauszuschauen. Ich möchte eigentlich gar nicht so genau wissen, ob gerade ein Flugzeug auf mich zurast. Wozu auch? Wegrennen wäre ja auch keine Option.