Wenn nur das Kirchlein nicht wäre. Dann hätten vielleicht mehr als ein paar verirrte Augen das Häuschen vorbeiflitzen sehen. Es liegt auf der falschen Bahnseite – genau vis-à-vis des berühmten Kirchleins von Wassen, das sich Reisenden auf der Gotthardstrecke wegen der Kehrtunnels aus drei verschiedenen Perspektiven zeigt.

Vielleicht übersehen die meisten Reisenden das Bahnwärterhäuschen auch deshalb, weil sich ihre Augen erst wieder ans Tageslicht gewöhnen müssen, nachdem sie aus dem 1084 Meter langen Wattinger Kehrtunnel aufgetaucht sind: 916 Meter über Meer, 24 Meter höher als beim Tunneleingang. Nur dank den Kehrtunnels – drei auf der Nord- und vier auf der Südseite – meistern die Züge die Steigung am Gotthard bei erträglicher Geschwindigkeit. Ein Meisterwerk der Bahntechnik, damals beim Bau im Jahr 1881.

Barbara und Marcel Sax kauften das ausrangierte «Bahnwärterhaus 23cs» letzten Frühling. Es liegt im 23. Bahningenieurbezirk, bei Kilometer 61.940. Die Bahndirektion liess es bauen, als die Tunnels schon acht Jahre in Betrieb und ein Grossteil der Ingenieure längst wieder abgezogen waren. Die Fensterläden zeichnen sich dunkel auf der weissen Fassade ab; die Wände sind überzogen mit einem Netz aus feinen Rissen – wie bei einer Autoscheibe nach einem Steinschlag. Die Fenster sind klein, aber doppelt verglast, die Läden mit grüner Farbe frisch gestrichen.

14.16 Uhr. Der Schnellzug 1580 von Chiasso nach Zürich braust talwärts – unmittelbar am Haus vorbei.

Hang zu Gegenständen mit Geschichte
«Eigentlich war das Wärterhäuschen sofort bewohnbar», sagt Marcel Sax. Doch es gibt noch einiges zu tun. Die furnierten Sperrholzwände aus Esche hat Sax weiss übermalt. Er ist Museumstechniker von Beruf, zuständig für die Konservierung, Lagerung und Restaurierung von Kunst. Früher war er Schreiner und davor Primarlehrer. Geblieben ist sein Hang für Gegenstände mit Geschichte.

In der Stube lehnt ein Bild an der Wand: Einem Setzkasten ähnlich, sind auf 16 mal 12 Feldern allerlei Kleinigkeiten in einen Rahmen eingepfercht. «Strandgut» heisst das Werk der Luzerner Künstlerin Ursula Stalder. «Ich habe ein geschultes Auge für Dinge, die im Alter nicht an Schönheit verlieren», sagt Marcel Sax. Für das Wärterhaus will der leidenschaftliche Brockenhausbesucher keine neuen Möbel anschaffen. «Das Haus selber ist für mich so etwas wie ein Möbel aus der Brockenstube.» So hat er auch gehandelt: Das Haus ist ein Schnäppchen – den Preis konnte er «noch drücken».

14.25 Uhr. Der Intercity 256 von Mailand nach Basel verschwindet im Wattinger Kehrtunnel und lässt das Häuschen hinter sich, in dem einst ein Streckenwärter wohnte.

Allgemeines Reglement der Direktion der Gotthardbahn, Abteilung IV, 24. Februar 1882, Dienst der Streckenwärter: «Die Streckenwärter sind hauptsächlich mit der Überwachung und dem Kleinunterhalt eines ‹Wärterstrecke› geheissenen Theiles der Bahn betraut, dessen Länge je nach der erforderlichen Arbeit wechselt. Der Streckenwärter hat dem Dienst seine ganze Zeit zu widmen. Welches auch immer die Witterung sein mag, namentlich wenn sie drohend ist, so hat der Streckenwärter bei Nacht wie bei Tag bei dringenden Anlässen jedesmal zugegen zu sein.»

Ohne ausdrückliche Bewilligung durfte sich der Wärter nicht von der Strecke entfernen. Bevor der erste Zug kam, musste er auf einer Runde kontrollieren, ob keine Schiene gebrochen war und die Leitungen zu den Signalen noch funktionierten. Was den Laufbrettern der Wagen oder den Kolbenstangen der Lokomotiven zu nahe gekommen wäre, musste er wegräumen, zudem Schienennägel nachtreiben, Laschenbolzen anziehen.

14.28 Uhr. Der Cisalpino 155 von Zürich nach Mailand rauscht in den Rohrbachtunnel.

Der sechsköpfigen Familie sind die Räume der 41⁄2-Zimmer-Wohnung im 30 Autobahnminuten entfernten Stans zu eng geworden. Im Traum vom eigenen Wochenendhäuschen inbegriffen sind acht Aren flaches Land. Ein behaglicher Ort – zu klein, um zur Belastung zu werden, gross genug, dass man sich nicht gegenseitig auf die Füsse tritt. «Ich könnte mir hier sogar mein eigenes Zimmer einrichten», sagt Barbara Sax.

«Fangis, Versteckis, Äpfel ernten»: Auf einem weissen Plakat haben Simon, 13, Eva, 9, Judith, 8, und die sechsjährige Fidelma aufgeschrieben, womit sie hier oben ihre Zeit verbringen können. Auf den ersten sechs Absätzen der Treppe zum ersten Stock reihen sich Finken an Finken – ein Paar kleiner als das andere. Noch bevor der erste Schnee kam, feierten sie im Garten den 70. Geburtstag des Grossvaters. Als dann endlich ein Cisalpino vorbeifuhr, liefen sie zum Zaun, um zu winken. Manchmal grüssen die Lokführer mit einem Pfiff zurück.

14.40 Uhr. Vor- und Hauptsignal, A12 und C*12, signalisieren dem Schnellzug 1671 von Basel nach Chiasso freie Fahrt. Er übertönt das Ticken der Wanduhr im Wärterhäuschen – sie hängt noch nicht, sondern liegt auf dem Tisch.

Damals musste ein Streckenwärter im Dienst stets einen Fahrplan, ein «Aufschreibebuch», eine Uhr, einen Bolzenschlüssel, ein Rufhorn und eine Büchse mit sechs Knallkapseln mit sich führen. Von Letzteren machte er Gebrauch, wenn dichter Nebel die Erkennung der Signale aus mindestens 100 Meter Entfernung verunmöglichte sowie bei heftigen Winden, die die Signale umwerfen konnten. Um den Lokführer vor Hindernissen zu warnen, befestigte der Streckenwärter im Abstand von zehn bis zwölf Metern zwei bis drei Knallkapseln auf den Schienen.

Der Wärter musste einen ordentlichen Lebenswandel führen und seinem Dienst die grösste Aufmerksamkeit widmen. Unerlaubte Abwesenheit und Trunkenheit konnten mit sofortiger Entlassung bestraft werden. Zum Zeitvertreib gab es von der Bahndirektion Bienenstöcke.
14.47 Uhr. Güterzug 42761 kreischt durch die Kurve beim Wärterhäuschen. Knapp zwei Drittel der gesamten Gotthard-Nordrampe bestehen aus Kurven.

«Am bedrohlichsten sind Nachtzüge»
Sitzt Familie Sax im Sommer im Garten, muss sie ihre Gespräche jeweils unterbrechen, bis der Zug vorbeigefahren ist. Auch im Hochsommer bleiben die Fenster nachts zu, sonst wird es zu laut. Statt «Wie hast du geschlafen?» fragen sich die Familienmitglieder am Morgen jeweils: «Wie viele Züge hast du gehört?» Am schlimmsten sind die Güterzüge. «Meist kommt ganz am Schluss ein Wagen, der noch einmal so richtig hämmert», sagt Marcel Sax.

«Am bedrohlichsten sind die Züge in der Nacht», sagt Barbara Sax. Doch der Zuglärm ärgert sie nicht, sie wohnte schon früher an einer Bahnlinie. Wenn sie hingegen beim Spazieren den Lärm der Autobahn höre, werde sie ganz nervös.

«Ich weiss nicht, ob ich mit dem Lärm nur darum so gut leben kann, weil ich weiss, dass es nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels ruhiger sein wird», sagt Marcel Sax. Im Büchergestell stehen zwei Ausgaben von Max Frischs Roman «Stiller». Es tönt wie ein frommer Wunsch.

14.50 Uhr. Güterzug 42066 Richtung Norden bremst. Er kreischt.

Als die Gotthardlinie 1882 eröffnet wurde, fuhren im Schnitt täglich 18 Züge durch den Gotthard; heute sind es 280. Wassen liegt zwar an der wichtigsten Bahnverbindung nach Süden, doch davon hat das Dorf wenig – ausser dass jedermann das Kirchlein kennt, das aber nur wenige von innen gesehen haben. Der Bahnhof Wassen ist seit Jahren nicht mehr bedient. Kein Zug macht mehr Halt. Wer mit der Bahn nach Süden reisen will, muss zuerst mit dem Bus nach Göschenen fahren und auf den Schnellzug warten.

Im Jahr 1907 brauchte der Expresszug Nr. 103 für die Strecke Luzern–Chiasso vier Stunden und 26 Minuten; heute sind es rund drei Stunden Fahrzeit. Nach Eröffnung des Basistunnels verspricht die Bahn für Zürich–Bellinzona eine Reisezeit von anderthalb Stunden. Längst ist nicht mehr der Weg, sondern der schnellste Weg das Ziel. Und die Alpen sind bloss ein lästiges Hindernis, das es zügig zu überwinden gilt – noch rascher mit dem Basistunnel, noch schneller mit der zweiten Röhre.

Glaskeramikherd und Waschmaschine
Zwar schreiten auch heute noch Streckenwärter die Gleise ab – doch nur alle zwei Wochen. High Tech hat die Beinarbeit ersetzt: Ultraschallgeräte spüren unsichtbare Risse in den Schienen auf. 384 Wärterhäuschen zählten die SBB noch vor zwei Jahren. Die meisten dienten nicht wie am Gotthard Streckenwärtern, sondern Barrierenwärterinnen – ein Frauenjob. Seit vor acht Jahren die letzte Bahnwärterin der SBB die Schranken schloss, haben auch die Häuschen ausgedient.

Die meisten verkauft die Bahn jetzt wie das Wassener Bahnwärterhaus 23cs: Parzelle 989, ausserhalb der Bauzone, kein Kanalisationsanschluss – dafür mit zentraler Ölheizung, Glaskeramikkochherd und funktionstüchtiger Waschmaschine.

Marcel und Barbara Sax sind selbst Zugfahrer. Erst vor ein paar Jahren kauften sie sich ihr erstes Auto. Eine besondere Beziehung zur Bahn haben sie dennoch nicht. Damit der Glastisch in der Stube nicht mehr zittert, wenn ein Güterzug vorbeifährt, haben sie den Tisch mit dem «Mondo»-Buch «Eisenbahnen der Welt» beschwert. Ab und zu fühlt sich Marcel Sax, als ob er im Modell der Gotthardstrecke des Luzerner Verkehrshauses sässe – «bloss eine Spur realer».

Kein Traum von Strand und Meer
Als Kind sehnte sich Marcel Sax nach dem Süden, wenn er voll bepackte Autos vorbeifahren sah. Doch die Zeiten haben sich geändert. Barbara Sax erklärt: «Wir gehören nicht zu denjenigen, die von Strand und Meer träumen.» Im Sommer ging die Familie aber doch einmal mit den Kindern «nach drüben» und verbrachte ein paar Tage im Tessin.

Schon wieder rauscht ein Zug vorbei. «Früher fuhr ich an vielem einfach vorbei», sagt Barbara Sax, «heute nehme ich den Weg viel bewusster wahr.» Das Kirchlein von Wassen ist längst nicht mehr das Einzige, was ihren Blick anzieht, wenn sie unterwegs ist. Wohin auch immer.