Familie Bieri strahlt. Die Eltern sprechen von einer «sinnvollen Sache», und aus der Sofaecke raunt der achtjährige Max «cool». Auf seinen Knien balanciert er das Sammelbuch «Sticker Mania: Abenteuer Regenwald», und um ihn herum stapeln sich Dutzende selbstklebender Bilder. 200 Motive von Regenwaldtieren werden gegenwärtig in den Migros-Filialen verteilt – ein Gemeinschaftswerk von WWF und Migros. Pro 20 Franken Einkauf gibt es gratis fünf Sammelbilder, das Buch ist für fünf Franken zu erstehen, und wer speziell gekennzeichnete Produkte kauft, wird mit Extrabildern belohnt.

Seit Wochen ist in Max’ Klasse die Stickermanie ausgebrochen: In jeder freien Minute wird gesammelt, getauscht und verkauft. «Einfach genial», schwärmt Max. «Einkaufen mit den Kids ist seither ein Vergnügen», sagen die Eltern. Peter Fricker, CEO von WWF Schweiz, erklärt, es gehe um «Umweltbildung». Und Migros-Chef Herbert Bolligers Ziel ist es, Jugendliche für den Umweltschutz zu begeistern.

«Hinterlistig», urteilt hingegen Sara Stalder. Die Geschäftsleiterin der Stiftung für Konsumentenschutz spricht von «Manipulation» und «Marketingmassnahme unter dem Deckmantel des Umweltschutzes». Beispiele wie das aktuelle von Migros und WWF haben die Stiftung veranlasst, in diesen Tagen Beschwerde bei der Schweizerischen Lauterkeitskommission einzureichen – zu den Bereichen «Einsatz von Spezialeffekten», «Kaufaufforderung» sowie «ungesunde Lebensmittel». Gefordert werden «faire Spielregeln für an Kinder gerichtete Werbung». Komplexer ist die Frage, wie diese Forderung umgesetzt werden soll. So heisst es in den Richtlinien der internationalen Handelskammer, die der Konsumentenschutz künftig zur Anwendung bringen will: «Besondere Sorgfalt muss bei Marketingkommunikation/-aktivität angewendet werden, die an Kinder und Jugendliche gerichtet ist beziehungsweise in der Kinder und Jugendliche die Hauptrolle spielen. Solche Aktivitäten dürfen positives soziales Verhalten, positiven Lebensstil und positive Einstellungen nicht untergraben.» Oder: «Für Kinder und Jugendliche ungeeignete Produkte dürfen nicht in den Medien beworben werden, die an diese Zielgruppe gerichtet sind.»

Solche Sätze machen klar, wie schwierig es ist, Kinder vor «hinterlistiger» Werbung schützen zu wollen. Von allen Seiten werden Köder ausgeworfen: hier die gesunde Milchschnitte mit einer Extraportion Kalzium; dort die Limonade mit dem Wettbewerb, der als Gewinn einen MP3-Player verspricht. Der Verlockungen sind viele, und der Fülle an Botschaften ist keine Grenze gesetzt. Und sie richten sich genau an jene, die am neugierigsten sind, sich leicht begeistern lassen, dazugehören wollen, markenbewusst sind – und die schon früh über eigenes Taschengeld verfügen.

Schätzungen gehen davon aus, dass die 7- bis 17-Jährigen in der Schweiz 60 bis 600 Franken pro Monat erhalten. Bereits vor 15 Jahren verfügten die 7- bis 12-Jährigen in Deutschland über eine Summe von rund sechs Milliarden Mark an Taschengeld und Erspartem. Für die Wirtschaft Grund genug, Milliarden in spezielle Kinderwerbung zu investieren. Tendenz steigend: Wurden in den USA im Jahr 1990 noch 100 Millionen Dollar für Kinderwerbung ausgegeben, waren es im Jahr 2000 über zwei Milliarden Dollar. Auch die Einführung von eigens für Kinder entwickelten Produkten im europäischen Raum spricht eine deutliche Sprache: 1994 waren es deren 50, 2004 bereits 470.

Im Fokus sind vor allem kleinere Kinder, weil sie Werbung nicht von Unterhaltung unterscheiden können. «Werbung funktioniert über unbewusste, subtile Botschaften», sagt der Zürcher Sozial- und Wirtschaftspsychologe Christian Fichter, der etliche Studien zum Konsumverhalten und der Wirkung von Werbung durchgeführt hat. «Bei Kindern im Vorschulalter ist die Impulskontrolle noch nicht ausgeprägt, was sie besonders empfänglich für Werbebotschaften macht.» Gegen «diese Form von Manipulation» könnten sich die Jüngsten der Gesellschaft nicht wehren. Im Gegenteil, für sie steht vor allem der Unterhaltungswert im Zentrum: Sie singen nach, was sie hören, sie spielen nach, was sie sehen. Erst im Alter von sechs bis acht Jahren können Kinder laut Fichter Werbung als solche erkennen.

Welche Macht Werbung hat, zeigen Studien immer wieder. So fand ein interdisziplinäres Forscherteam heraus, dass bereits das einmalige Anschauen eines Werbespots ausreichen kann, um die Produktwahl von Vorschulkindern zu beeinflussen. Und die Fachzeitschrift «Archives of Pediatrics & Adolescent Medicine» berichtete kürzlich: Wissenschaftler servierten 63 Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren zwei Fünfgangmenüs: einen Geflügelbratling, einen Hamburger, Pommes frites, Rüebli und einen Becher Milch – einmal in der Verpackung von McDonald’s und einmal in neutraler Erscheinung. Drei Viertel der Kinder fanden die Pommes frites aus der McDonalds-Verpackung schmackhafter. Die identischen Menüs schmeckten nur zehn Prozent der Befragten gleich. Es zeigte sich, dass vor allem Kinder aus Haushalten mit mehr als einem Fernsehgerät, die häufig McDonalds-Restaurants besuchen, das Menü mit dem M bevorzugten.

Als «sensibles Thema» bezeichnet Piero Schäfer, Sprecher des Verbands Schweizer Werbung, das Umgarnen von Kindern. Der Fachverband hat deshalb 48 Gebote formuliert, die Unternehmen und Agenturen als Leitfaden dienen und verhindern sollen, dass die Leichtgläubigkeit der Kinder ausgenützt wird, dass Spielzeug nicht mit Spezialeffekten dargestellt wird und dass Werbung keine Kaufaufforderung enthält. Die Regeln gehen laut Schäfer «sehr weit»: «Wer sich wortwörtlich daran hält, kann eigentlich kaum mehr Werbung machen.» Verbandssprecher Piero Schäfer ist zugleich Sprecher der Lauterkeitskommission. In den letzten Jahren sei in Sachen Kinder und Werbung keine einzige Beschwerde eingegangen, sagt er. Und auch wenn er die WWF-Migros-Aktion als «heikel» einstuft, hält Schäfer die Beschwerde des Konsumentenschutzes für einen «Sturm im Wasserglas». Denn: «Das Ausreizen kommerzieller Kommunikation ist Teil des liberalen Gedankenguts einer freien Marktwirtschaft. Es liegt in der Natur der Werbung, dass sie verlocken soll.»

Zurück zu Bieris: Dort ist eine Woche nach dem ersten Besuch der ganze Wohnzimmerboden mit Stickern zugepflastert. Max hat zwei Freunde zu Besuch. Stunden zuvor, berichtet Mutter Bieri, sei ein Jubelschrei durch die Wohnung gegangen: Das erste Sticker-Mania-Buch ist voll.