Es war ein trübkalter Morgen am 15. Dezember 1999. An der Förrlibuckstrasse 10 in Zürich trifft sich die Beobachter-Redaktion im geheizten Sitzungsraum zur Plenarkonferenz. Spontane Frage: Ist die Schweiz noch gleich sicher wie vor 20 Jahren? Nein, findet die Mehrheit der gut 30 Anwesenden, die Kriminalität habe zugenommen – und zwar «deutlich» bis «stark». Fast alle sind überzeugt, dass sich die Bevölkerung weniger sicher fühle als Anfang der achtziger Jahre.


Einige Stunden später. Es ist noch kälter geworden. Die Uhrzeiger stehen zwischen zwei und vier am frühen Morgen des 16. Dezember. Am Seeufer in Erlenbach ZH liegt eine Villa im dunklen Park. Professionell bohren die Täter ein Loch ins Parterrefenster und steigen ein.


Die Alarmanlage bleibt stumm. Blitzschnell durchsuchen die Einbrecher beide Stockwerke und packen teure Mäntel, Handtaschen und andere Gegenstände im Wert von 80000 Franken ein. Die Ehefrau des Besitzers, des früheren Beobachter-Verlegers Beat Curti, entdeckt den dreisten Einbruch erst um sieben Uhr nach dem Aufstehen.


Die Kriminalität nimmt nicht zu

Das Verbrechen lauert immer und überall – könnte man meinen. Doch die Beobachter-Redaktion täuscht sich. In der Schweiz wächst die Kriminalität nämlich nicht – auch wenn die Gauner ganz in der Nähe zuschlagen. Die Straftaten stagnieren seit fast 20 Jahren auf praktisch gleichem Niveau.


Das zeigt ein Blick in die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes. Seit 1982 registriert das Bundesamt für Polizei (BAP) die Zahl der in der Schweiz verübten Straftaten. 1998 wurden genau 332387 Delikte angezeigt: 5289 Straftaten (1,5 Prozent) weniger als im Vorjahr. «Damit bleibt die Situation in der Schweiz stabil», kommentiert das BAP.


Seit 18 Jahren – damals registrierte man 323525 Straftaten – hat die Gesamtkriminalität im Durchschnitt bloss um 0,2 Prozent pro Jahr zugenommen. Ein Anstieg, der deutlich unter der jährlichen Bevölkerungszunahme von 0,6 Prozent im gleichen Zeitraum liegt. Verändert hat sich jedoch die Zusammensetzung der kriminellen Taten:



  • Abgenommen haben im Vergleich zu 1982 etwa die Brandstiftungen sowie die Fahrzeug- und die Entreissdiebstähle. Letzteres hat auch mit der Schliessung der offenen Drogenszenen zu tun.

  • Markant zugenommen haben Raub, Körperverletzung und Tötungsdelikte. Die Bundespolizei erklärt dies mit einer generell «zunehmenden Gewaltbereitschaft».
  • Deutlich gestiegen ist die Zahl der Einbrüche und Diebstähle (ohne Fahrzeuge).
  • Uneinheitlich ist die Entwicklung bei Sexualdelikten. Sexueller Missbrauch (Verletzung der sexuellen Integrität) hat zugenommen, was die Polizei auf ein «aktiveres Anzeigeverhalten» der stärker sensibilisierten Öffentlichkeit zurückführt. Vergewaltigungen haben hingegen eher abgenommen.


Insgesamt ist die Entwicklung also widersprüchlich. Weit weniger eindeutig jedenfalls als vermutet. Das zeigt auch die Umfrage auf der Beobachter-Redaktion. Eine grosse Mehrheit der Befragten war sicher, dass die Tötungsdelikte eher abgenommen, die Vergewaltigungen, Entreiss- und Fahrzeugdiebstähle hingegen zugenommen haben. Doch das Gegenteil ist der Fall.


Der ETH-Soziologe Manuel Eisner sieht die Diskrepanz zwischen Meinung und Fakten darin begründet, dass die Wahrnehmung der Kriminalität durch die Medien beeinflusst wird. Zudem blieben unmittelbare Erfahrungen der jüngsten Zeit stärker in der Erinnerung haften. «Wenn in einem Quartier ein paar Mal eingebrochen wird, sagen die Leute schnell einmal: "Die Einbrüche nehmen zu."»


Sex and crime gehören in freien Gesellschaften zum klassischen Medienstoff. «17-Jähriger ersticht Mutter mit Brieföffner», «Familienvater wegen sexueller Handlungen mit Knaben verhaftet», «Geliebte und Freund vergiften Ehemann» – solche Schlagzeilen sind täglich in den Zeitungen zu finden.


Doch nicht nur auflagebolzende Boulevardblätter und quotengierige TV-Stationen berichten Schauder erregend über das Unglück der andern. Die Berichterstattung über Mordfälle wie jene des erschossenen St. Galler Reallehrers Paul Spirig oder der Gattin des Dübendorfer Tierarzts Gabor Bilkei sind heute auch für seriöse Zeitungen und Zeitschriften ein Muss.


Die Medien verzerren die Realität

Anders gesagt: Die Medien geben die Realität verzerrt wieder. Von spektakulären Verbrechen wie Mord, Erpressung und Entführung sind nur wenige betroffen. Die weit häufigeren, alltäglichen Vergehen finden meist unter den kleingedruckten «vermischten Meldungen» statt. Zahlenmässig sind von Eigentumsdelikten allerdings 100-mal mehr Personen betroffen als etwa von Sexualvergehen.


Im Straftatenkatalog dominieren mit riesigem Abstand die Diebstähle – inklusive Fahrzeugdiebstählen, Einbrüchen und Entreissdiebstählen. Diese Deliktgruppe macht ganze 91,2 Prozent aller Straftaten aus. Dann folgen die übrigen Vermögensdelikte (Betrug, Veruntreuung, Raub, Geldwäsche) mit 4,2 Prozent. Vergehen gegen Leib und Leben (Tötung, Körperverletzung) sowie Nötigung und Bedrohung liegen noch tiefer (siehe Grafik).


«Im Vergleich mit dem Ausland ist die Schweiz wenig durch Kriminalität belastet», bilanziert Renate Storz vom Bundesamt für Statistik. Sie verweist auf die Interpol-Daten zur Zahl der Delikte pro Kopf der Bevölkerung (siehe Grafik).


Uberraschenderweise liegt ein Land an der Spitze, das gemeinhin als sehr sicher gilt: Schweden. Hier werden 135 Straftaten pro 1000 Einwohner und Jahr gezählt (1997).


Mit weniger als der Hälfte – nämlich 55 Straftaten – liegt die Schweiz im «sicheren» Drittel der europäischen Länder. Dass Spanien und Italien punkto Kriminalität noch besser abschneiden, hängt wohl damit zusammen, dass die Anzeigequote in diesen Staaten tiefer liegen dürfte als in mittel- und nordeuropäischen Staaten.


Die Furcht wächst

Dennoch fühlt sich eine Mehrheit der Schweizer Bevölkerung zutiefst verunsichert. Das zeigen die regelmässigen Erhebungen von Demoscope über das psychologische Klima im Land. Danach hielten im letzten Jahr nur 15 Prozent der Befragten den Umfang der Kriminalität für tragbar, 69 Prozent dagegen für untragbar. Ähnliche Werte ermittelte das Luzerner Marktforschungsinstitut schon 1977. In der Zwischenzeit war das Volksempfinden mal milder, mal strenger gestimmt. 1987 etwa hielten 24 Prozent der Befragten den Umfang der Kriminalität für erträglich, 50 Prozent für unerträglich. Seit 1997 aber nimmt die Unzufriedenheit wieder leicht zu.


Dass in der Langzeitbeobachtung zwei Drittel der Bevölkerung mit dem Kriminalitätsniveau unzufrieden sind und lediglich ein Fünftel damit leben kann, erstaunt den Soziologen Manuel Eisner kaum: «Es gibt keinen Grund, die Kriminalität einfach hinzunehmen.»


In der latenten Unzufriedenheit drückt sich aber auch die typisch schweizerische Versicherungsmentalität aus. Sieben von zehn Personen bezeichnen sich gemäss Demoscope als «sicherheitsdenkend». Nur 15 Prozent der Befragten stufen sich selbst als «risikofreudig» ein. Und auch dieses zahlenmässige Verhältnis zwischen «Sicherheitsdenkenden» und «Risikofreudigen» bleibt in allen Befragungen seit 1974 konstant.


Erstaunlicherweise hat die verbreitete Unzufriedenheit in den letzten Jahren kaum zu politischen Eruptionen geführt. Diebstahl, Einbruch und Betrug sind eben immer noch eher Stammtischgespräch als Thema ernsthafter politischer Auseinandersetzungen. Mit einer Ausnahme: den politischen Kräften ganz zur Rechten.


Waren es früher eher Splittergruppen wie die Nationale Aktion und die Autopartei, so thematisiert heute die Schweizerische Volkspartei (SVP) die öffentliche Sicherheit. «Dabei gebärdet sich die Zürcher Sektion der SVP am hemmungslosesten und radikalsten», konstatiert der grüne Politiker und Journalist Peter Niggli in der Zeitschrift «Widerspruch».


Tatsächlich war Christoph Blochers Partei im Wahlkampf 1999 die einzige, die ein eigenes Sicherheitskonzept auf den Tisch legte. Darin fordert sie eine Verstärkung des Grenzwachtkorps gegen die «Ubertritte von kriminellen Banden und Einzeltätern», den internationalen Datenaustausch zu «Fahndungszwecken», «Videoüberwachung in Städten» und andere griffige Massnahmen.


Man mag die populistischen Forderungen der SVP gut oder schlecht finden. Sicher ist, dass die Partei an den wirklichen Sorgen der Leute angeknüpft und damit bekanntlich die grösste Ernte ihrer Geschichte eingefahren hat.


Dürftig sehen die Sicherheitskonzepte der übrigen Parteien aus. Die FDP hat sich zwar im Wahljahr ebenfalls ein 17-seitiges Positionspapier zu einer «umfassenden Sicherheitspolitik» zugelegt. Doch als dringliche Massnahmen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit fallen der Partei, die sich für weniger Staat und mehr Freiheit engagiert, bloss eine «Verstärkung der Polizeipräsenz» und eine «Verschärfung der Gesetze» ein.


Politiker glänzen mit Leerformeln

Mit schönen Leerformeln glänzte die CVP. Sie postulierte einfach: «Ohne Sicherheit geht nichts.» Und auch Justizministerin Ruth Metzler schwebte am CVP-Wahlkongress in Hergiswil in wolkigen Allgemeinplätzen. Die Bekämpfung der Kriminalität sei eine gemeinsame Aufgabe von Staat und Gesellschaft, verkündete sie – ohne auch nur mit einem einzigen Satz konkret zu werden.


Das ist immerhin noch mehr, als was die Grünen mitzuteilen haben. «Zu diesem Thema haben wir keine Unterlagen», erklärte die Sprecherin der Grünen Partei dem Beobachter, «nur zur sozialen Sicherheit, zu Gleichstellung, globaler Sicherheit und zum Umweltschutz.»


Bei der SP hingegen wurde das Thema ideologisch aufgemöbelt. Im «Wahlhandbuch 99» existiert nur ein Kapitel zur Gewalt gegen Frauen. «Gewalt hat viele Ursachen», heisst es dort, «aber Gewalt ist männlich.» Und «Gewalt hat mit der Geschlechterfrage zu tun.» Ob das den Arbeitnehmer, bei dem zu Hause eingebrochen wird, solidarischer stimmt?


Bürger greifen zur Selbsthilfe

Solange die liberalen und linken Kräfte das Sicherheitsthema unterschätzen oder tabuisieren, werden immer wieder Bürger und Bürgerinnen zur Selbsthilfe greifen. So wie zum Beispiel in Emmen LU, wo der Zivilschutz auf Einbrecherjagd geht, oder im aargauischen Hirschthal, wo die Feuerwehr mit Funkgerät und Handlampe patrouilliert.


Die «Bürgerwehr» im luzernischen Ebikon brachte es sogar schweizweit zu Schlagzeilen, als sich ein Mitglied mit einem Pump-Action-Gewehr im «Blick» ablichten liess. Am Zunehmen ist in der Schweiz auch das amerikanische «Neighbourhood watching» (siehe Artikel).


Andere führen den Kampf mit intellektuellen Waffen. So etwa der Verein «Sifa – Sicherheit für alle/Aktion gegen die Kriminalität», der sich Mitte Januar der Öffentlichkeit präsentieren wird. In ihm haben sich Leserbriefschreiber unter dem Präsidium von SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer zusammengeschlossen. «Jeder Einzelne kann schon morgen Opfer eines Verbrechens sein», beschwören sie in ihrem Aufruf. Deshalb sei «passives Abwarten verantwortungslos».


In seiner Rechtsaussenpostille «Schweizerzeit» kocht «Sifa»-Gründer Schlüer allerdings ein weiteres Süppchen. Systematisch deckt er in seinen Meldungen über Messerstechereien und Einbrüche die Nationalität der Täter auf: Jugoslawen, Dominikaner, «Dunkelhäutige» und andere Ausländer. Damit trägt Schlüer nicht zur Sicherheit bei, sondern schürt das Jagdfieber auf Ausländer – und zeigt damit, wie ein berechtigtes Anliegen für andere Zwecke missbraucht werden kann.


 

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