Die Alltagswelt ist weit weg hier oben, in Sorengo bei Lugano, wo es eine kleine Stadt für Behinderte gibt. Hier kann man Antworten finden auf schwierige Fragen. Auf Fragen über den Wert des Lebens, über die Würde des Menschen, über Glück, Trauer und Tod. Voraussetzung ist allerdings die Bereitschaft, sich auf die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen einzulassen, die hier von der Stiftung Otaf betreut werden (siehe «Info», Seite 61). Sich einzulassen mit allen Sinnen, wie das Jacek Pulawski getan hat: Zuerst absolvierte der Fotograf ein achtmonatiges Volontariat im Heim – ohne Kamera, «nur um diese andere Welt kennenzulernen», wie er sagt. Später kehrte er zurück, um zu fotografieren, suchte während Wochen nach den Bildern, die Gemütsverfassungen wie Freude, Liebe, Ruhe und auch Leid zeigen. «Es war schwierig, mit der Kamera das einzufangen, was ich zuvor als Volontär gesehen und gespürt hatte», erinnert er sich. Oft sei er frustriert gewesen: «Man müsste einen Chip im Auge haben, auf dem man mit einem Wimpernschlag den jeweils richtigen Moment speichern könnte.»

Seine Antworten hat er aber gefunden, wie seine Schwarzweissfotografien zeigen. Besonders ergreifend sind die Bilder vom zwölfjährigen Brendon; er leidet an der Erbkrankheit Duchenne-Muskeldystrophie: Seine Muskeln geben allmählich ihre Funktion auf. Die zunehmende Lähmung führt unweigerlich zum frühen Tod.

«Sie gehen halt nicht mehr, die Beine»

Trotzdem ist Brendon ein zufriedenes Kind. Er lässt den Spitalclown, der die Abteilung regelmässig besucht, keinen Moment aus den Augen. Den Trick mit dem weggezauberten Kugelschreiber hat der Junge sofort durchschaut. Er lacht und klatscht in die Hände. Selber verzaubert er seine Umgebung täglich mit seinem fröhlichen Gemüt: «Er ist ein Lichtblick im Alltag und erleichtert uns allen die Arbeit», sagt seine Betreuerin Elisa Grignoli. Seit drei Jahren kann Brendon nicht mehr laufen; das habe er einfach so mit einem Schulterzucken hingenommen und gemeint: «Sie gehen halt nicht mehr, die Beine.»

Brendon lebt seit 2003 im Otaf. Seine Eltern hatten nicht mit der Erbarmungslosigkeit der Biologie gerechnet: Nie zu sehen, wie Brendon Fahrrad fährt, Bücher liest, vielleicht selber Kinder bekommt, ein «normales» Leben lebt – das hielt die Ehe nicht aus. Unter dem Druck wachsender sozialer Probleme gab die Mutter den Buben schliesslich schweren Herzens ins Heim, wo die IV für die Kosten aufkommt. Sie besucht ihren Sohn regelmässig.

Im Otaf lebt Brendon wie in einer grossen Familie mit vielen Kindern. Kinder mit den unterschiedlichsten Diagnosen, umsorgt von zahlreichen Betreuerinnen. In seinem Zimmer hängen Zeichnungen und ein Spiderman-Plakat. Spielzeug-Rennautos, Helikopter, Legosteine und Stofftiere liegen herum – ein ganz normales Kinderzimmer.

Seine Betreuerinnen sind überzeugt, dass Brendon glücklich ist. Aber sie reden die Situation keineswegs schön. Geistig sei er bis heute nicht im Grundschulalter angelangt; Buchstaben würden für ihn Ornamente bleiben. Und die Zukunft verheisst wenig Gutes, denn heilbar ist seine Krankheit nicht; man kann nur versuchen, die Selbständigkeit des Körpers mit Physiotherapie so lange wie möglich zu erhalten.

Mit Begriffen wie «Heilung» oder «Erfolgsquote» können die Betreuerinnen ohnehin kaum aufwarten, sie sprechen von kleinen Fortschritten und überraschenden Reaktionen. «Für uns ist das Alltag», sagt Laura, die Brendon mitbetreut. Zugleich kennt sie die Gefahr der Routine, die abstumpfen lässt: «Die Sensibilität müssen wir uns bewahren.»

Pulawski mag das Wort «Behinderte» nicht. Behinderung sei bei einem Kind wie Brendon nicht das wesentliche Merkmal, sondern nur ein Teil seiner Besonderheit. Wenn er im Vergleich zu Brendon an die angeblich normalen Jugendlichen denke, die er täglich in Zügen oder Bussen sehe, Kopfhörer in die Ohren implantiert: «Da ist null Kommunikation! Und man muss sich unweigerlich fragen, bei wem Defizite und Verhaltensstörungen bestehen.»

Gewiss, mit Brendon kann man keine langen Gespräche führen, zumal er nebst der Muskelkrankheit auch unter gewissen geistigen Störungen leidet. Aber er spricht und versteht, lebt jedoch in seiner eigenen Welt – was fehlt, ist die Selbstreflexion. Zum Glück. So ist er zumindest frei von gesellschaftlichen Ängsten.

Jacek Pulawski sagt: «Stellen wir uns für einen Moment vor, wir alle wären wie Brendon. Keine bösen Absichten und Hintergedanken, kein Hass – nur die kindliche Naivität, sich in eine Realität entführen zu lassen, die wirklich tolle magische Momente bereithält.» Er zieht den Vergleich zur Filmfigur Forrest Gump und fährt fort: «Dann sieht man in einem Kind wie Brendon vielleicht nicht mehr nur einen Behinderten, sondern erkennt einen glücklichen Menschen mit reinen Gefühlen.»n

Echte Hilfe für 320 Menschen

Die Stiftung Otaf wurde 1917 primär zur Tuberkulose-Bekämpfung gegründet. Ab 1960 spezialisierte sie sich auf Hirnschädigungen und baute ihr Angebot stetig aus. Derzeit betreut und rehabilitiert die vom Kanton massgeblich unterstützte Stiftung 320 Menschen mit leichter bis sehr schwerer geistiger und körperlicher Behinderung. Sie bietet Wohnmöglichkeiten, dient als Tagesstätte und als Ambulatorium für Physio- und Ergotherapie. Die Otaf (www.otaf.ch) beschäftigt 300 Angestellte, 30 Volontäre und 10 Lehrlinge.

Der Fotograf

Jacek Pulawski, 34, ist als Fotograf fasziniert von Menschen am Rande der Gesellschaft. Für seine Bilder von Flüchtlingen wurde er 2009 mit dem Swiss-Press-Photo-Preis ausgezeichnet, 2010 erhielt er den Swiss Photo Award für eine Reportage über Prostituierte. Pulawski will Bilder machen, die «eng verknüpft sind mit Fragen über Leben und Tod, wertes und unwertes Leben». Der gebürtige Pole lebt seit 22 Jahren in der Schweiz und wohnt in Chiasso. Sämtliche Einkünfte seiner Fotoarbeit «Volunteer Days» spendet er der Stiftung Otaf als Beitrag für Sommerferien.
Internet: www.pulawski.ch

Quelle: Jacek Pulawski