Hinter der Tür mit der Norwegen-Flagge, gleich neben den sauber aufgereihten Kindervelos, beginnt der Ausnahmezustand. Einmal tief einatmen, bevor man die Türklingel betätigt. Wobei: Darf man hier überhaupt läuten? Es ist früher Nachmittag, aber die Tageszeit ist eigentlich egal. Bei Familie Schneider kann man fast sicher sein: Es schläft bestimmt gerade ein Baby. Wir klingeln trotzdem. Babygeschrei.

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«Gibt es erst Hilfe, wenn wir zusammenbrechen?»

Christine Schneider (Name geändert), fünffache Mutter

Kurz darauf öffnet sich die Tür. Christine Schneider schaut heraus, ein etwa vier Monate altes Baby auf dem Arm. Ein kleines Mädchen drückt sich an ihre Beine: «Mama, wer ist das?» Schneider bittet herein, ihr Vater tischt Wasser auf, ihre Mutter wiegt etwas abseits in ihren Armen ein zweites Baby. In der Wippe zu ihren Füssen schaukelt das dritte.

Auf den ersten Blick ist es unmöglich, die drei Neugeborenen auseinanderzuhalten. Für einen kurzen Moment ist es ganz still geworden. Vor dem Fenster: das perfekte Bergidyll – Holz, grüne Wiesen, ein fantastischer Ausblick auf das Berner Oberland.

Der Hilferuf an den Beobachter

«Was, wenn es zu spät ist?» – eine Frage wie eine Alarmglocke. So beginnt der Brief, den Christine Schneider ein paar Wochen zuvor an den Beobachter geschrieben hat. Die Verzweiflung, die aus den beiden sauber getippten Seiten spricht, ist existenziell. Die 36-Jährige beschreibt darin ihre Tage und Nächte; das ständige Rennen, Funktionieren, Stillen, Abpumpen. Sie hat keine Zeit fürs Essen, fürs Duschen – vom Schlaf ganz zu schweigen. Es ist auch eine Anklageschrift, die sie verfasst hat. Gegen ihre Krankenkasse, die Visana. «Langsam, aber sicher platzt mir der Kragen», schreibt Schneider.

«Drei Säuglinge – schaffen wir das überhaupt?»

Christine Schneider (Name geändert), fünffache Mutter

Die Drillinge sind im November 2024 geboren. Mehr als sechs Wochen zu früh, aber gesund. Sie sind spontan entstanden. Die Schneiders, die nur unter falschem Namen im Beobachter erscheinen möchten, als müssten sie sich für irgendwas schämen, wünschten sich ein drittes Kind. Jetzt haben sie fünf.

Der Schock: Drillinge!

Christine Schneider erinnert sich an den Schock, als die erste Ultraschalluntersuchung vor gut einem Jahr gleich drei pochende Herzen anzeigte. Die grossen Fragen, die gleich darauf auftauchten: Sind die drei gesund? Ist mein Körper dieser Belastung gewachsen? Und was, wenn alles gut geht: drei Säuglinge – schaffen wir das überhaupt?

Eigentlich sind die Bedingungen bei Schneiders gut: Christine und ihr Mann sind selbständig und arbeiten gemeinsam an Filmprojekten. Ihre Arbeitszeit können sie sich relativ frei einteilen. Das Haus, das sie zu Pandemiezeiten gekauft haben, ist gross genug für alle. Noch wichtiger aber: Christines Eltern wohnen im selben Haus. Beide wurden gerade erst pensioniert und kümmern sich gern um die Enkelkinder. Selbst in den Nächten helfen sie aus – und tagsüber packen sie im Haushalt mit an.

Auch die Grosseltern sind am Anschlag

Trotzdem merkt man auch ihnen an, dass sie eine Pause bräuchten. Sobald man anbietet, eine Aufgabe zu übernehmen, ziehen sie sich dankbar zurück. In den Händen einen Kaffee vom Frühstück, der längst nicht mehr warm ist.

«Als ich schwanger war, hörte ich überall: Mit Drillingen bekommst du Hilfe. Jemand zahlt eine Haushaltshilfe, dazu gibts sicher Unterstützung bei der Betreuung.» Christine Schneider lacht. Es klingt kein bisschen fröhlich. Obwohl sich ihre Gynäkologin und ihre Mütterberaterin für sie einsetzten, teilte die Visana im März 2025 mit, dass sie die Haushaltshilfe, die einmal in der Woche bei ihnen geputzt hat, nicht länger finanziert. Es liege «keine medizinische Indikation vor, welche eine Einschränkung in der Haushaltsführung begründet», heisst es im Schreiben. →

Hilfe erst, wenn die Überlastung schon da ist

Christine Schneider hat das Papier schon viele Male in der Hand gedreht. Ihre handschriftlichen Notizen belegen, dass sie versucht hat, sich die Haltung der Krankenkasse zu erklären. «Telefon 29.3.2025» steht dort zum Beispiel. Darunter ganz gross das Wort «Überlastung». Schneider erinnert sich noch gut an dieses Telefongespräch. «Da wurde mir erklärt, dass es keine Möglichkeit gebe, mich zu entlasten. Erst wenn ich überlastet sei, könnte ich mit Hilfe rechnen.» Für Christine Schneider ist das zynisch. «Das heisst also: Erst wenn ich einen Zusammenbruch habe und nicht mehr aufstehen kann, ist das System bereit, mir zu helfen?»

«Ich habe mir Sorgen gemacht. So habe ich meine Tochter noch nie gesehen.»

Die Grossmutter

Auch ihre Mutter erinnert sich an jenen 29. März. «Ich habe mir Sorgen gemacht», sagt sie. «So habe ich meine Tochter noch nie gesehen.» Sie schaut nachdenklich in den weitläufigen Garten, wo die beiden grösseren Kinder im Sandkasten spielen. «Damals hatte ich wirklich das Gefühl, sie schafft es vielleicht nicht mehr.» Die drei Säuglinge seien seit Wochen krank gewesen, hätten nur geschrien – und so viel gehustet, dass sie sich übergeben mussten. «Ich bin froh, dass wir diese Tage heil überstanden haben.»

Bei der Visana dagegen zeigte man sich unbeeindruckt. Obwohl Schneiders Gynäkologin mehrfach intervenierte, blieb die Kasse bei ihrer Haltung. Christine Schneider sei uneingeschränkt in der Lage, ihren Haushalt zu führen.

«Zwei Stunden Schlaf am Stück»

Auch Daniela Willi erinnert sich gut an diese schwierigen Tage Ende März. Sie arbeitet bei der Mütter- und Väterberatung des Kantons Bern. Sie kennt die Familie seit einigen Jahren. «Sie müssen sich das so vorstellen: Wenn alles gut läuft, stillt Frau Schneider nachts zuerst ein Baby. Das dauert etwa eine halbe Stunde. Dann kommt das nächste an die Reihe. Das dritte bekommt vielleicht ein Fläschchen vom Papi. Der Punkt ist: Wenn alle drei versorgt sind, wacht das erste Kind schon langsam wieder auf. Sie selbst kommt also höchstens mal anderthalb oder zwei Stunden zum Schlafen. Das hält niemand lang durch.»

«Drei Säuglinge und eine Mutter, das ist zu viel.»

Daniela Willi, Mütter- und Väterberatung des Kantons Bern

Doch auch Daniela Willi kann wenig ausrichten. «Ich bekomme von Müttern oft die Rückmeldung, dass die Vereine, die wir ihnen empfohlen haben, wenig Unterstützung gewährt haben.» Die Mütter- und Väterberatung verfügt auch nicht über die nötigen Ressourcen. Deshalb verweist sie auf verschiedene Organisationen – und hofft, dass die Familien dort Hilfe erhalten.

Nur 12 Drillingsgeburten pro Jahr

Bei Familie Schneider hatte sie jedoch mit einer anderen Entscheidung gerechnet. «Drillinge sind so selten. Und eigentlich sollte allen klar sein, dass das eine Überlastung ist. Auch für eine gesunde und relativ junge Frau wie Christine Schneider.» Im Jahr 2023 gab es in der ganzen Schweiz nur zwölf Drillingsgeburten, für 2024 liegen die Zahlen noch nicht vor. Klar sei jedoch: Drei Säuglinge und eine Mutter, das sei zu viel. «In einer Kita geht man davon aus, dass eine Erzieherin maximal drei Säuglinge betreuen kann – und das ist eine ausgebildete Person, die nach acht Stunden nach Hause geht und in der Nacht ausschlafen kann.»

Woran liegt es, dass Familien wie die Schneiders trotzdem kaum Hilfe erhalten? «Ich glaube, es geht ums Prinzip. Es gibt immer wieder Familien, die temporär überlastet sind und Unterstützung bräuchten. Auch wenn sie keine Drillinge im Säuglingsalter haben», sagt Willi. «Vielleicht scheut man sich davor, einen Präzedenzfall zu schaffen.»

Ein «sehr umfassender Fall»

Per Anfrage an die Visana versucht der Beobachter, diesem Prinzip auf die Spur zu kommen. Ist es tatsächlich so, dass Familien erst zusammenbrechen müssen, bis sie Hilfe bekommen? Die Kasse lässt sich einige Tage Zeit mit der Antwort. Es sei ein «sehr umfassender Fall», man müsse alles genau prüfen.

Vielleicht, so denkt man spontan, hätten die Verantwortlichen auch einfach mal vorbeikommen können. Und zuschauen, wie Christine Schneider einmal täglich den Drillingskinderwagen den Berg hochschiebt. Der Zeitpunkt für den Spaziergang muss gut überlegt sein, denn das Postauto kommt nicht an dem überdimensionierten Wagen vorbei.

Fünf Kinder konstant im Auge behalten

Und dann sind da noch die zwei Grossen, vier und sechs Jahre alt, die auf ihren Velos den Asphalt hinuntersausen. An diesem Frühlingsnachmittag steht die Sonne so hoch, dass sie den drei Kleinen in den Augen kitzelt. Immer wieder erwachen sie. Christine Schneider versucht, ihnen Schatten zu spenden – und gleichzeitig auf die zwei Velokinder zu achten. Denn auch im ruhigen Bergidyll fahren Autos.

Eine halbe Stunde später steht sie mit allen fünf Kindern wieder heil vor dem Haus. Zwei von drei Babys schlafen. Und auch sie sieht aus, als könnte sie eine Pause vertragen. Stattdessen bindet sich Christine Schneider eine Babytrage um und wippt auf und ab. Als auch das dritte Baby langsam müde wird, schaut ihre vierjährige Tochter hoffnungsvoll um die Ecke: «Mami? Hast du jetzt kurz Zeit?»

Die Krankenkasse ändert ihre Meinung

Ein paar Tage später – die eingehende Prüfung der Visana ist nun abgeschlossen – geht alles plötzlich ganz schnell. Und der Ton ist ein gänzlich anderer. Man wolle sich bei Frau Schneider entschuldigen, lässt die Presseabteilung der Krankenkasse gegenüber dem Beobachter verlauten. «Wir haben wenig Sensibilität für die ausserordentliche Situation ihrer Familie gezeigt. Die Drillingsgeburt ist eine grosse Freude, die aber mit einer aussergewöhnlichen Belastung einhergeht.»

Noch am selben Tag erhält Christine Schneider einen Anruf. Bis Ende Juni werde ihr die wöchentliche Haushaltshilfe bezahlt. Christine Schneider freut sich. «Es heisst jetzt, das sei wegen
einer Zusatzversicherung, die wir abgeschlossen haben. Aber das ist ja höchstens die halbe Wahrheit», meint sie.
Es habe sich erst etwas bewegt, als der Beobachter nachgefragt habe.

Ohnehin findet sie das Argument mit der Zusatzversicherung überhaupt nicht in Ordnung. «Die Haushaltshilfe bräuchten ja wirklich alle Familien in unserer Situation.»