Beobachter: Melinda Nadj Abonji, in welcher Sprache haben Sie letzte Nacht geträumt?
Melinda Nadj Abonji: Im Moment träume ich nicht viel. Ich komme viel zu wenig zum Schlafen.

Beobachter: Und wenn der Wirbel um den deutschen Buchpreis vorüber ist und Sie wieder Zeit zum Träumen haben?
Nadj Abonji: Die Sprache meiner Träume hängt sehr davon ab, wo ich gerade bin und mit wem ich gerade gesprochen habe. Es kann gut sein, dass ich letzte Nacht auf Österreichisch geträumt habe, da ich gerade von einer Lesung in Wien komme. Wenn ich in Ungarn bin, schalte ich unmittelbar um. Manchmal träume ich auch in Sprachen, die ich gar nicht spreche. Das ist das Erfrischende an Träumen: Es gibt die Grenzen des wirklichen Lebens nicht, es existieren auch keine Sprachgrenzen.

Beobachter: Sie schreiben auf Deutsch. Ist Deutsch für Sie zur Muttersprache geworden?
Nadj Abonji: Ich habe zuerst Ungarisch gesprochen, dann relativ bald gleichzeitig Schweizerdeutsch und Hochdeutsch gelernt. Ich denke, dass man in der ersten Sprache, die man spricht, auch Beziehungen knüpft zu allem, was einen umgibt, nicht nur zu Menschen.

Beobachter: Die erste Sprache bleibt also die wichtigste.
Nadj Abonji: Man darf seine Muttersprache auf keinen Fall vernachlässigen, das gäbe ein Vakuum, eine Art Verarmung. Man kann eine Sprache auch vermissen: Das Ungarische zum Beispiel hat mehr Laute als das Deutsche, die fehlen mir manchmal. Und man darf Sprachen nie gegeneinander ausspielen. Für mich ist es ein Menschenrecht, seine Sprache sprechen zu dürfen.

Beobachter: Ein Plädoyer für die Mehrsprachigkeit.
Nadj Abonji: Natürlich. In der Literaturkritik wird immer wieder moniert, die Schweizer schrieben in einem schweizerischen Hochdeutsch. Ich sehe das Problem nicht. Die Österreicher haben ja auch österreichische Ausdrücke in ihrem Deutsch. Bei der Sprache existieren dieselben seltsamen Ideen wie beim sozialen Zusammenleben: Es gibt da irgendwelche puristischen Ideale. Dabei lebt die Sprache ja genau davon, dass sie sich ständig bewegt. Veränderung ist keine Bedrohung. Bedrohlich wird es erst, wenn die Leute nicht reden, wenn sie nicht reden dürfen.

Beobachter: Sie sind mit fünf in die Schweiz gekommen. Von welchem Moment an haben Sie sich dazugehörig gefühlt?
Nadj Abonji: Ich habe nie richtig dazugehört. Zwar hatte ich Freunde und war eine gute Schülerin, aber ich habe mich immer am liebsten mit Kindern umgeben, die wie ich an der sprachlichen Peripherie waren. Ich musste schon sehr früh erfahren, dass Kinder, die zu Hause nicht Deutsch sprechen, praktisch keine Chance haben, eine höhere Bildung zu erhalten. Mein Primarlehrer wollte mich auch nicht ins Gymi schicken. Zwar konnte er schlecht sagen, ich sei nicht gut genug in der Schule, darum befand er eben, ich sei noch nicht reif genug. In Küsnacht, wo ich aufgewachsen bin, gab es viel Geld und wenige Ausländer. Ich hatte immer das Gefühl, ich müsse aufpassen, nichts falsch zu machen. Mein älterer Bruder musste sogar die Klasse repetieren und kam in die Real. Mit 20 hat er die Sache selber in die Hand genommen; heute ist er 45 und hat einen Hochschulabschluss.

Beobachter: Was könnte man besser machen?
Nadj Abonji: Es ist für mich logisch, dass man die Sprache eines Landes lernt, in dem man lebt. Möglichst früh. Trotzdem finde ich es nicht gut, dass die schulischen Leistungen von Migrantenkindern aus Unterschichtsfamilien immer hinter denen der Schweizer Kinder zurückbleiben – natürlich, es wird ja auch alles auf Deutsch vermittelt. Da gibt es aber doch noch andere Möglichkeiten. Gerade die Schweiz mit ihren vier Landessprachen müsste in dieser Frage sensibel sein, und das finanzielle Problem liesse sich sicher auch lösen. Sonst muss man halt dazu stehen, dass man keine Ausländer in der Schweiz möchte, und zumachen. Dann aber bitte mit allen Konsequenzen. Die Mehrsprachigkeit gehört für mich genauso zum Bild der Schweiz wie Schoggi und Käse.

Beobachter: Sie schreiben nicht in Ihrer Muttersprache. Macht das das Schreiben für Sie schwieriger?
Nadj Abonji: Ich bin weder im Ungarischen noch im Deutschen hundertprozentig zu Hause. Das ist für mich keine Bedrohung, im Gegenteil: Ich lebe davon, dass ich mir nie ganz sicher bin. Diese Unsicherheit treibt mich auch an. Ich bewege mich in einem Spannungsfeld zwischen Kraft und Unsicherheit. Ich stelle meine Sprache ständig in Frage, und wenn man etwas in Frage stellt, verliert man den Boden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, ohne diese Unsicherheit zu schreiben. Am Anfang jeder Sprache stehen die Unsicherheit und das Experiment.

Beobachter: Was bedeutet das in Ihrem Fall konkret?
Nadj Abonji: Ich habe meine erste Sprache gewissermassen verloren. Mit meinen Geschwistern habe ich je länger, je mehr Schweizerdeutsch gesprochen; bloss mit meinen Eltern spreche ich Ungarisch. Sie können meine deutschen Bücher aber nicht lesen. Zum Glück erscheint bald eine ungarische Übersetzung. Das hat mich lange beschäftigt: Ich und meine Eltern haben keine gemeinsame Sprache. Aber wir haben uns im Gegensatz zu anderen Familien wenigstens nie die Illusion gemacht, die gleiche Sprache zu sprechen. Ich habe manchmal auf Deutsch geflucht, meine Eltern auf Ungarisch.

Beobachter: Sind Sie eine Schweizer Schriftstellerin?
Nadj Abonji: Ich bin eine ungarische Serbin, die in der Schweiz wohnt. Ich sage das immer als Witz, bloss merkt niemand, dass ich das ironisch meine. Was ich damit sagen möchte: Ich definiere mich nicht national.

Beobachter: Als Schriftstellerin ist Sprache für Sie im wahrsten Wortsinn lebenswichtig.
Nadj Abonji: Meine Mehrsprachigkeit unterscheidet mich natürlich von Kolleginnen und Kollegen, die sich nie eine Sprache haben erkämpfen müssen. Ich brauche auch mehr Zeit zum Schreiben: Oft nehme ich einen Auftrag nicht an, weil ich befürchte, nicht schnell genug zu sein. Das ist eine Charakterfrage, aber auch eine Sprachfrage. Ich führe es darauf zurück, dass man sich sicherer fühlt, wenn man seine Sprache nie grundsätzlich in Frage gestellt hat.

Beobachter: Wie fühlt es sich an, wenn Sie nach Ungarn kommen?
Nadj Abonji: Das ist jeweils extrem aufregend. Dann aktualisiert sich meine Sprache, ich lerne neue Wörter, und in der Nacht kann ich fast nicht schlafen, weil es so spannend ist und mich so besetzt.

Beobachter: Sie schreiben in Ihrem neuen Roman, der liebe Gott hätte mit der babylonischen Sprachverwirrung vor der Musik haltmachen sollen.
Nadj Abonji: Das wäre meine Vision von gemeinsamem Lernen, weil Musik Grenzen überschreitet. Jede Kultur hat ihre Lieder. Es gibt Rhythmen, Melodien, die fast alle kennen, egal wo sie herkommen. Man kann sie ohne Worte summen. Deshalb sollte man die musischen Fächer nicht noch weiter reduzieren. Ich habe schon oft mit Kindern zum Thema Musik und Literatur gearbeitet, und es ist erstaunlich, was man so aus ihnen herausholen kann. Musikalität ist etwas, was allen Menschen gegeben ist. Von meiner Arbeit als Dozentin an der pädagogischen Hochschule weiss ich, dass man mit Musik und Sprache viel erreichen könnte, wenn man die richtigen Leute hätte, die Freude daran haben, das zu vermitteln. Die Lehrer würden dann vielleicht auch nicht an ihren eigenen Ansprüchen scheitern und ausbrennen. Sie sprechen dauernd vom Migrationsproblem, aber viele haben keine Ahnung, die Erfahrung fehlt ihnen, und damit die Sensibilität. Ich hoffe, dass das die nächste Generation besser machen wird.

Beobachter: Was muss die heutige Generation anders machen?
Nadj Abonji: Vermutlich wird sich einiges ändern, wenn Leute, die einen Migrationshintergrund haben, selber Lehrerinnen oder Lehrer werden. Das Grundproblem ist nicht die fremde Sprache, sondern die Tatsache, dass Migrantenkinder aus den sogenannt bildungsfernen Schichten weder die Möglichkeit noch den Mut haben, Lehrer zu werden. Damit das geschieht, müsste man auch ihre Eltern viel stärker einbeziehen, ihnen Mut machen. Wir sollten Visionen entwickeln, die nicht verlogen sind, um die Eltern der ersten Generation zu erreichen. Ich habe selber erlebt, dass man den Kindern ein Schreiben mitgibt, damit sie dieses daheim abgeben. Bloss: Was, wenn die Eltern kein Deutsch sprechen? Man rät Migranten zu Recht, sie sollen Deutschkurse besuchen. Doch: Wann und wie hätten zum Beispiel meine Eltern, die uns drei Kinder aufgezogen und ein Café geführt haben, Deutschkurse besuchen sollen? Sie hatten keine Zeit, keine Kraft und auch kein Geld für solche Kurse.

Beobachter: Verlangt die Schweiz von ihren Zuwanderern zu viel? Nicht bloss eine Integration, sondern eine sprachliche Assimilation?
Nadj Abonji: Diese Angleichung, dieses Gleichmachen widerspricht dem Wesen des Menschen völlig. Die Schweiz braucht eine Vision von Integration, nicht von Anpassung. Gleichheitszeichen gibt es in der Mathematik, aber nicht in Bezug auf Menschen. Anpassung suggeriert, dass es etwas «Richtiges» gäbe, an das sich alle anpassen sollen.

Beobachter: Womit wir wieder bei der babylonischen Sprachverwirrung wären.
Nadj Abonji: Genau. Damals sind alle Sprachen zugleich «fremd» geworden, keine war weniger fremd als die anderen. Sprachliche Anpassung hat mit Selbstaufgabe zu tun, mit Angleichung bis zur Unsichtbarkeit. Natürlich muss man, wenn man in die Schweiz kommt, die Gesetze und Spielregeln des Landes einhalten, natürlich muss man die Sprache lernen. Das möchte man ja auch. Aber mir hat noch nie jemand erklären können, welches denn das Ideal wäre, an das wir uns anzupassen haben.

Melinda Nadj Abonji: «Tauben fliegen auf»

Verlag Jung und Jung, 2010, 316 Seiten, Fr. 34.90