Beobachter: Die Zahl der Asylsuchenden in Europa hat sich seit 2015 fast halbiert. Könnten wir nicht die Schwelle für eine Einreise nach Europa senken und mehr Flüchtlinge aufnehmen?
Beat Stauffer
Wir haben zurzeit weniger Asylanträge, weil es den Menschen viel schwerer gemacht wird, überhaupt nach Europa zu gelangen. Für Abschottungsdienste bezahlen die EU-Länder die türkische Regierung, aber auch Marokko, Libyen und den Sahelstaat Niger. Daraus jetzt abzuleiten, weniger Migranten wollten nach Europa reisen und darum die Grenzen zu lockern, wäre weltfremd. Selbst in relativ sicheren Staaten wie Tunesien wollen rund 40 Prozent der jungen Männer das Land Richtung Europa verlassen. Würde Europa sich jetzt öffnen, hätten wir die riesigen Flüchtlingsströme sofort wieder da.


Die Maghrebstaaten und die Türkei machen gewissermassen die schmutzige Arbeit für die Europäer.
Ja. Und es gibt zurzeit kaum eine Alternative dazu. Ohne die «Festung Europa» könnten wir unseren Lebensstandard nämlich nicht halten. Wer also offenere Grenzen fordert, sollte dafür zuerst Mehrheiten in der europäischen Bevölkerung suchen. Ich halte das für eine Illusion. Mittlerweile weigern sich sogar die weltoffenen Schweden, zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Sie sind mit der Integration der Migranten offenbar überfordert. Das ist ein Alarmsignal.


Das angeblich von Migranten angezündete Flüchtlingslager Moria auf Lesbos ist ja auch ein Alarmsignal: Für unhaltbare Zustände in solchen Camps, wo Migranten ohne Perspektive monate- oder jahrelang festgehalten werden.
Ich teile diese Kritik. Solche Lager sollten nur eine Durchgangsstation für Vorabklärungen sein. Wer keine Chance auf Asyl hat, sollte möglichst schnell in sein Heimatland zurückgeführt werden. Junge Tunesier und Marokkaner erhalten zum Beispiel zu über 95 Prozent kein Asyl. Sind sie aber einmal auf dem europäischen Festland, tauchen sie oft unter, um nicht registriert zu werden. Sie erhoffen sich damit mehr Chancen, in Europa bleiben zu können. Man sollte abgelehnte Asylbewerber aus diesen Staaten rascher zurückschaffen, ihnen aber auch eine finanzielle Hilfe anbieten, damit sie nach der Rückkehr nicht völlig mittellos dastehen. In eine Flucht haben ja oft ganze Familien investiert. Der neue EU-Pakt soll ja genau hier Verbesserungen bringen. Durchgangslager sollen nicht zur Endstation werden.


Immer mehr Migranten aus südlicheren Ländern stranden in Nordafrika. Die Maghreb-Staaten haben aber kaum ein Interesse, diese Menschen bei sich zu behalten.
Das ist in der Tat ein riesiges Problem. Die Maghrebstaaten brauchen finanzielle Unterstützung aus Europa, um Flüchtlinge und Migranten aus Ländern südlich der Sahara einigermassen menschenwürdig zu betreuen. Das ist heute leider nicht der Fall. Die internationale Organisation für Migration (IOM) kann zwar Migranten in ihre Heimatländer zurückführen, allerdings nur, wenn die Betroffenen das auch wollen.

«Die Flüchtlinge in Nordafrika sind ganz auf sich allein gestellt. Aber weil keine Kameras dort sind, kümmert das die Weltöffentlichkeit nicht.»

Beat Stauffer, Maghreb-Experte

Wie leben die Flüchtlinge und Migranten in Nordafrika?
Es sind oft weit schlimmere Zustände als auf Lesbos. So gibt es in Libyen von kriminellen Milizen kontrollierte Lager, in denen Flüchtlinge misshandelt und ausgeraubt werden. Sehr viel mehr Migranten und Flüchtlinge verstecken sich in den Banlieues der grossen Städte. Besonders elend sind die Zustände im Norden von Marokko, nahe der Küste. Viele Migranten leben in Wäldern in der Nähe von Tanger und den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla. Von dort versuchen sie die Grenzbefestigungen zu überwinden oder mit Schleppern übers Meer nach Spanien zu gelangen. Die jungen Afrikaner hausen dort unter grässlichen Bedingungen; ich war selber mehrfach an diesen Orten. Hier werden weder Zelte noch Nahrungsmittel oder medizinische Betreuung angeboten. Die Flüchtlinge sind ganz auf sich allein gestellt. Aber weil keine Kameras dort sind, kümmert das die Weltöffentlichkeit nicht.


Warum wird nicht mehr darüber informiert?
Die marokkanische Regierung hindert Journalisten systematisch, vor Ort über die Zustände zu recherchieren. Regelmässig gibt es Razzien, und die Migranten werden mit Gewalt auf Lastwagen verfrachtet und Hunderte Kilometer in den Süden transportiert. Einfach damit sie wieder weg von der Grenze sind. Solche Aktionen geschehen letztlich im Auftrag von Europa. Doch in Brüssel will man die zum Teil fragwürdigen Deals mit nordafrikanischen Staaten nicht an die grosse Glocke hängen.


Gibt es keine Alternative zu solchen Abkommen?
Kurzfristig sehe ich keine Alternative. Der Migrationsdruck ist ganz einfach zu gross. Man sollte aber die Lebensbedingungen für Flüchtlinge und Migranten in Nordafrika verbessern und Möglichkeiten schaffen, um bereits im Maghreb ein Asylgesuch stellen zu können, zum Beispiel in ein einer Botschaft. Die Umsetzung der Abkommen müsste zudem streng kontrolliert werden. So liesse sich auch in einem gewissen Mass verhindern, dass Flüchtlinge in die Hände krimineller Schlepperbanden geraten und ihr Leben riskieren. Europa sollte zudem besonders verletzliche Menschen direkt aus Kriegsgebieten oder aus Flüchtlingslagern aufnehmen.


Sollten Asylgesuche bereits in Nordafrika geprüft werden?
Das ist Zukunftsmusik, aber es wäre menschlicher und würde die sinnlos zermürbenden Asylschlaufen in Europa verhindern. Die Abklärungen müssten mit Einwilligung der Maghreb-Länder durch eine europäische Asylbehörde durchgeführt werden. Zudem müsste es möglich sein, auch in solche Zentren Asylgesuche einzureichen.

Etwas realistischer ist es, im Maghreb Aufnahmezentren für die Transitmigranten aus anderen afrikanischen Ländern zu errichten. Das hätte den grossen Vorteil, dass die Menschen korrekt versorgt würden und sich in Ruhe überlegen könnten, ob sie sich wirklich auf die gefährliche Reise über das Meer machen wollen. Aber die Maghrebstaaten haben natürlich Angst, dass die Abgelehnten dann bleiben und nicht in ihre Länder zurückkehren. Es braucht deshalb faire Abkommen – Migrationspartnerschaften – die den Herkunftsländern etwas bringen: Grosszügige Investitionen, Beseitigung von Handelshemmnissen, Gewährung von Stipendien und anderes mehr. Nur so werden diese Länder Hand bieten zur Rücknahme ihrer Landsleute.

«Wir sollten generell in einem gewissen Umfang legale Migration ermöglichen, etwa mit einem Greencard-System.»

Beat Stauffer, Maghreb-Experte

In ihrem Buch «Maghreb, Migration und Mittelmeer» machen sie sich stark für eine zirkuläre Migration. Was muss man sich darunter vorstellen?
Es geht um die Möglichkeit, für ein paar Jahre in Europa zu arbeiten oder sich weiterzubilden, um anschliessend in ihre Heimat zurückzukehren. Wir sollten generell in einem gewissen Umfang legale Migration ermöglichen, etwa mit einem Greencard-System. So hätten diese Menschen eine Alternative zu gefährlichen Ausreisen mithilfe von Schleppern. Wichtig ist dabei, dass auch schlecht Ausgebildete aufgenommen werden. Es geht nicht an, dass wir diesen Entwicklungs- und Schwellenländern ausgerechnet die gut ausgebildeten jungen Menschen wegnehmen.


Das tönt schön, dürfte aber sehr teuer werden.
Das ist richtig. Wir müssen uns aber vor Augen halten, dass allein die Betreuung und die Rückführung eines einzigen Migranten ohne Asylgrund schnell mehrere 10'000 Franken kostet. Eine sinnlose Ressourcenvernichtung. Würden wir das Geld in Projekte mit Breitenwirkung vor Ort investieren, könnten wir viel Sinnvolleres bewirken.

Zur Person
Christoph Ort, Experte für Siedlungswasserwirtschaft am Wasserforschungsinstitut Eawag des Bundes.

Christoph Ort ist Experte für Siedlungswasserwirtschaft an der Eawag, dem Wasserforschungsinstitut des Bundes. Der 46-Jährige befasst sich seit Jahren mit Spuren der Gesellschaft im Abwasser.

Quelle: Esther Michel
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