Thomas Hug, immer wieder warnen Eltern vor gefährlichen Stellen im Strassenverkehr, doch oft handelt niemand. Warum?

Es liegt an der reaktiven Art, wie Verkehrsplaner und Behörden heute die Verkehrssicherheit beurteilen: Sie argumentieren, dass eine Stelle nicht als Unfallhotspot bekannt ist. Denn das wird sie erst, wenn es eine gewisse Anzahl Unfälle gab. Erst wenn etwas mit harten Fakten messbar ist, sieht man heute Handlungsbedarf. Unfallsanierungen werden diese Aufträge in der Fachsprache genannt.

Wie könnte man es denn besser machen?

Indem man das subjektive Sicherheitsempfinden aller Verkehrsteilnehmenden systematisch erfasst. Die Politik sollte sich dafür interessieren, wo und warum sich Fussgänger, Velofahrerinnen oder Autofahrer nicht sicher fühlen. Wenn sich heute einzelne Bürgerinnen und Bürger an die Behörden wenden, wird diese Meldung entweder bearbeitet oder sie verschwindet direkt irgendwo in einer Schublade – systematisch erfasst werden die wenigsten Meldungen.

«Wenn sich jemand an einer Stelle nicht sicher fühlt, sollte man das ernst nehmen.»

Thomas Hug, Verkehrsplaner

Wie kann man sich denn auf subjektive Empfindungen stützen, wo doch Gefahren sehr unterschiedlich wahrgenommen werden?

Genau das ist das grosse Problem. Es gibt bisher noch keine Möglichkeit, ein Gefühl in relevante Zahlen zu übersetzen. Unfälle hingegen sind messbar und haben darum viel mehr Gewicht in der Verkehrsplanung. Wenn sich jemand an einer Stelle nicht sicher fühlt, sollte man das aber ernst nehmen. Ein sauberes Monitoring der Meldungen würde helfen, die Gefühle zu übersetzen.

Es gibt einzelne solche Initiativen.

Richtig. Auf der schweizweiten Plattform Bikeable oder dem Zürcher Velobserver können Velofahrer gefährliche Stellen melden. Für den Fussverkehr ist eine ähnliche nationale Meldeseite im Aufbau. Doch ob die Gemeinden diese Meldungen überhaupt anschauen, ist fraglich. Solche Instrumente sollten vermehrt einen bindenden Charakter haben, damit sich die Behörden nach einem Unfall nicht rausreden können, man habe von nichts gewusst.

Der Gemeindepräsident von Hunzenschwil argumentierte, die Gemeinde könne nichts tun, weil die Strasse dem Kanton gehört. Ist das nicht eine Schutzbehauptung?

Ich habe Verständnis, wenn er auf den Kanton zeigt. Kleine Gemeinden haben meist nicht das Know-how, um zu wissen, was man tun kann. Der Kanton aber schon. Dass der Kanton nicht reagiert, ist mir aber unbegreiflich. Unfallauswertungen zeigen klar, dass auf Kantonsstrassen überproportional mehr schwere Unfälle passieren. Er muss seiner Verantwortung für mehr Sicherheit auf den Strassen nachkommen. 

Wie?

In erster Linie das Verkehrsvolumen und die Tempolimiten auf diesen Strassen senken. Im Kanton Aargau ist Tempo 30 auf Kantonsstrassen noch kaum möglich. Dabei ist längst klar, dass Tempo 30 nicht nur mehr Verkehrssicherheit bringt, sondern auch Lärm reduziert, den Verkehr flüssiger macht und es einfacher ist, Strassen zu überqueren. Die Lösungen liegen also auf dem Tisch, wir müssen sie einfach endlich umsetzen. Im Kanton Zürich geht die Diskussion aktuell allerdings in eine andere Richtung mit Initiativen, die Tempo 30 verbieten wollen. Ich bin gespannt, wie sich die Bevölkerung dazu stellen wird. Oft ist es ja so, dass man Tempo 30 zwar vor der eigenen Haustüre möchte, aber bitte dort nicht, wo man selbst mit dem Auto rasch vorwärtskommen will.

Ein Experte der Beratungsstelle für Unfallverhütung argumentierte kürzlich im Gespräch mit dem Beobachter, Gefährlicher Schulweg «Zur Sicherheit: Macht keinen Zebrastreifen!» man könne in einer ländlichen Gegend nicht einfach Tempo 30 machen, die Autofahrer würden sich nicht daran halten.

Mir läuft es kalt den Rücken runter, wenn ich solche Aussagen höre. Das ist eine Kapitulation vor der Gefahr. Wenn das Tempolimit nicht eingehalten wird, müssen die Verkehrsteilnehmenden mit Tafeln und notfalls mit Blitzern auf die reduzierte Geschwindigkeit aufmerksam gemacht werden. Das ist unangenehm für jene, die es erwischt. Ich verstehe die Klagen darüber aber nicht. Es gibt nach einer Signalisationsänderung immer eine Kulanzzeit, wo noch nicht geblitzt wird, damit man sich an die neuen Umstände gewöhnen kann. Und wenn Signalisationstafeln nicht reichen, muss halt die Strasse umgebaut werden, damit Verkehrsteilnehmende automatisch spüren, dass hier Tempo 30 ist.

Das koste zu viel, argumentieren Kritiker.

Einen Streckenabschnitt für Tempo 30 umzurüsten, kostet nicht viel. Zudem zeigen Messwerte aus Zürich, dass auch in weniger urbanen Strassenräumen Tempo 30 grösstenteils befolgt wird – auch wenn es noch keine Umgestaltung des Strassenraums gegeben hat. Geld ist also nicht das Problem, sondern dass langsameres Fahren das autoorientierte Verkehrsverhalten in Frage stellt. Wenn wir mit Tempo 30 aber in 30 Jahren einen toten Menschen verhindern können, sind es die fünf Sekunden längere Fahrzeit wert.

Unfall in Hunzenschwil AG: Zehnjähriges Mädchen getötet

Am Samstag, 16. Juni 2023, ereignete sich auf der Hauptstrasse in Hunzenschwil AG ein schwerer Unfall. Ein zehnjähriges Mädchen überquerte um kurz nach 13.30 Uhr gerade den Fussgängerstreifen, als ein 72-jähriger Autofahrer sie gemäss Mitteilung der Kantonspolizei Aargau erfasste. Das Mädchen wurde mehrere Meter weggeschleudert und schwer verletzt. In kritischem Zustand wurde sie ins Zürcher Kinderspital geflogen, wo sie am Sonntagmittag ihren schweren Verletzungen erlag. Wie es zum Unfall kam, ist unklar. Für den Autofahrer gilt die Unschuldsvermutung.

Am Montag trafen sich Freunde und Bekannte der Familie zu einer Kundgebung. Sie forderten vom Kanton mehr Sicherheit für die Kinder, auch eine Geschwindigkeitsreduktion auf Tempo 30. Bereits vor dem Unfall hätten Eltern schon mehrfach Sicherheitsmassnahmen gefordert. Eine der Unfall-Ersthelferinnen sagte zudem in einem Interview gegenüber «Blick», die Stelle sei bekannt dafür, dass hier oft zu schnell gefahren würde. 

Das Aargauer Baudepartement sagte gegenüber der «Aargauer Zeitung», der betreffende Zebrastreifen sei gerade erst letzte Woche fertig saniert worden. So sei unter anderem die Mittelinsel verbreitert worden. Die Strecke sei übersichtlich und der Fussgängerstreifen klar erkennbar. «Seitens Infrastruktur ist das eine korrekt ausgebildete Anlage.»

Zur Person

Thomas Hug studierte an der ETH Raum- und Verkehrsplanung. Der 32-Jährige ist Gründer und Geschäftsführer eines Raumplanungsbüros, das Konzepte entwickelt, wie der öffentliche Raum für alle Verkehrsteilnehmenden attraktiv und sicher gestaltet werden kann. Zuvor war er unter anderem für die Stadt Zürich als externer Berater tätig und analysierte die Chancen und Risiken von Mikromobilitätsangeboten wie Leih-E-Trottis und -Velos. Daneben engagiert sich der GLP-Politiker mit dem Velobserver für eine sichere Veloinfrastruktur in der Stadt Zürich.