Noch vor kurzem hätte das kaum jemand erwartet: In zehn Jahren dürften mindestens drei von vier Autos, die in der Schweiz neu zugelassen werden, einen Stecker haben. Und das ist nur das pessimistische Szenario des Branchenverbands Swiss eMobility.

Letztes Jahr war erst ein Prozent der Fahrzeuge auf Schweizer Strassen rein elektrisch unterwegs. Doch der Umbruch ist spürbar. Reihum geben Autohersteller bekannt, ab wann sie voll auf elektrische Gefährte setzen. Die EU strebt für 2035 bei Neuwagen eine Null beim CO2-Ausstoss an. Das kommt einem eigentlichen Verbrennerverbot für Neuwagen gleich. 

Das Wachstum der Elektromobilität führt zu lauten Forderungen nach einem schnellen Ausbau der Ladeinfrastruktur. Vor allem zu Hause und am Arbeitsplatz. Denn mit dem Antrieb ändern sich auch die Gewohnheiten beim Tanken. 

Das könnte zur Knacknuss werden. «Wir haben europaweit die schwierigsten Voraussetzungen, weil wir den grössten Anteil an Mietern und Stockwerkeigentümerinnen haben», sagt Krispin Romang, Geschäftsführer des Verbands Swiss eMobility. «Wer eine Ladestation installieren will, ist vom Goodwill der Vermieter oder der Miteigentümer abhängig.» 

Verpasste Chance

Oft sei die fehlende Planung ein Problem. «Einige Verwaltungen verbieten Ladestationen zwar nicht, verpassen aber die Gelegenheit, vorausschauend ein Gesamtkonzept zu erstellen. Das führt zu Einzellösungen, die später nicht intelligent gesteuert werden können.» Die Folge: Mehrkosten und ein stärker belastetes Stromnetz. 

Was Mieterinnen und Stockwerkeigentümer teils mühsam erkämpfen müssen, macht das Carsharing-Unternehmen Mobility im grossen Stil: Es verhandelt mit den Besitzern der Parkplätze. Mobility will bis 2030 komplett auf Elektroautos umstellen. Das Problem: Die Parkplätze gehören nicht dem Unternehmen. Also muss es auf jeden einzelnen Besitzer zugehen und abklären, ob er beim Umstieg auf Elektromobilität mitmacht. Bei schweizweit rund 3000 Parkplätzen ist das ein Kraftakt. 

Deren Besitzer könnten unterschiedlicher nicht sein. Es gibt den grossen Partner SBB mit Mobility-Standorten an über 1000 Bahnhöfen, aber auch Einzelpersonen, die in einem Quartier an den Carsharer vermieten.

«Hinzu kommen typisch föderale Herausforderungen, etwa bei Baugesuchen. Für Ladestationen braucht es meist neue Leitungen oder Netzanschlüsse, und die Bedingungen variieren von Ort zu Ort», sagt Mobility-Sprecher Patrick Eigenmann. In einem Testlauf will man den Puls messen. «Wir haben querbeet Besitzerinnen von Parkplätzen angeschrieben und schauen, wie positiv gestimmt sie sind und welche Ängste auftauchen.»

Laden für alle?

Der Verband Swiss eMobility ist täglich mit Anfragen von Betroffenen konfrontiert. Um die Situation schweizweit zu verbessern, reichte Verbandspräsident und GLP-Nationalrat Jürg Grossen im Frühling eine Motion ein. Er fordert ein «Recht auf Laden». Alle sollen Anspruch auf den Zugang zu einer Ladestation erhalten – und die Verwaltungen gleichzeitig das Recht, das Ladesystem vorzuschreiben. 

Der Bundesrat empfiehlt, die Motion abzulehnen, das Parlament hat noch nicht beraten. «Wir hätten die Weichen schon vor Jahren richtig stellen sollen. Stattdessen wird jetzt noch gebremst», sagt Krispin Romang von Swiss eMobility. «Interessanterweise fordern heute viele Ladestationen, die vor wenigen Jahren noch Elektroautos verhindern wollten.» Natürlich begrüsse man aber die Unterstützung. 

Der Hauseigentümerverband ist gegen Massnahmen, wie sie Grossen fordert, Auto-Schweiz aber steht dem positiv gegenüber. Der Branchenverband der Autoimporteure hatte zwar mit seinem Referendum gegen das CO2-Gesetz dafür gesorgt, dass die in der Vorlage enthaltene Förderung der Ladestationen versenkt wurde. Er ist aber besorgt, dass Stecker fehlen. Das Interesse sei gross, und die Produkte seien da.

«Die Branche hat die Hausaufgaben gemacht. Jetzt braucht es dringend die nötige Infrastruktur und genügend erneuerbare Energie», sagt Auto-Schweiz-Direktor Andreas Burgener. «Und es braucht etwas, was Städter nicht gern hören: zusätzliche Parkplätze.» Für die blaue Zone sei die Herausforderung nämlich noch grösser. Es reiche nicht, die bestehenden aufzurüsten. «Es hat sowieso zu wenig Parkplätze, und die Leute müssen dreimal ums Quartier fahren, wenn sie von der Büez nach Hause kommen. Die darf man nicht verärgern, indem man ihnen zugunsten der E-Auto-Fahrer auch noch die regulären Parkplätze wegnimmt.»

Fördersystem finanzieren

In verschiedenen Städten gibt es Pilotprojekte fürs Laden in blauen Zonen. Sie haben für Krispin Romang von Swiss eMobility aber nicht oberste Priorität. «Es ist schwieriger, die blaue Zone zu erschliessen als die Parkplätze der Mieterinnen und Stockwerkeigentümer. Wenn jemand mit einer Parkkarte unbeschränkt bei einer Ladestation steht, lohnt sich das für Investoren noch nicht. Auch die Parkformen müssten überdacht werden.» Pilotprojekte seien wichtig, die Umsetzung dürfte aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen. 

Ein Fördersystem für E-Ladestationen wäre theoretisch fixfertig vorhanden. Um bei einer Annahme des CO2-Gesetzes vorbereitet zu sein, ging es im vergangenen Frühling in die Vernehmlassung. Nach dem Nein fehlen nun aber die Mittel und die gesetzliche Grundlage dafür. 

Auto-Schweiz-Chef Burgener will den Ausbau der E-Ladestationen deshalb mit Geldern aus dem Strassenverkehr bezahlen. «Natürlich nicht auf Kosten der Beiträge im Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrsfonds, sondern zum Beispiel mit fünf Prozent aus dem Rest der Treibstoffzuschläge, die heute in die Bundeskasse fliessen», schlägt er vor. Er wärmt damit den Ansatz der gescheiterten Milchkuhinitiative neu auf.

«Dann wären die Ladestationen wenigstens nutzerfinanziert», sagt Stéphanie Penher, Bereichsleiterin Verkehrspolitik beim Verkehrs-Club der Schweiz. Der Ausbau der Elektromobilität dürfe nicht von der Allgemeinheit finanziert werden. Der Staat solle nur die Rahmenbedingungen definieren. «Man könnte etwa Besitzer von Mehrfamilienhäusern oder Betreiber öffentlich zugänglicher Parkplätze und Parkhäuser zu einem bestimmten Anteil Ladestationen mit Ökostrom verpflichten.» 

Um den Strassenverkehr fossilfrei zu machen, reichten einzelne Massnahmen wie der Umstieg auf E-Autos nicht. Es brauche eine Reduktion des Verkehrs. Penher warnt davor, alles eins zu eins durch Elektromobilität zu ersetzen und so den Status quo des Individualverkehrs zu zementieren.

Sie sagt: «Das Potenzial, den Autobesitz neu zu denken oder auf andere Verkehrsmittel zu wechseln, ist riesig und überhaupt nicht ausgeschöpft. Jetzt viel Geld in eine Infrastruktur zu verlochen, für die es womöglich keinen Bedarf gibt, wäre schade.» 

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Tina Berg, Redaktorin
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