Mutproben: Der erste Flirt und riskante Snowboard-Touren
«Aufs Ganze gehen» und «an die Grenze kommen»: Mutproben gehören zur Pubertät wie Pickel und Ärger mit den Eltern. Nur wer seinen Mut erprobt, gewinnt Risikokompetenz – und steht seine Frau und seinen Mann im Leben.
Veröffentlicht am 14. September 2000 - 00:00 Uhr
«Und dann?» Der Zwischenruf kommt im Flüsterton. Karin ist ins Stocken geraten. Sie nimmt ihr Gesicht in beide Hände. Ob sie es bereut, damit angefangen zu haben? Jemand kichert. «Also!», sagt sie, «dann habe ich ihn halt angesprochen!» Ein Anflug von Röte huscht über ihre Wangen.
Buchholzschulhaus Thun, Haupttrakt, erster Stock. Über der Klassenzimmertür prangt ein buntes Windrad. Die Jalousien im Raum sind zugezogen; es ist ein schwüler Spätsommernachmittag. Die Schüler und Schülerinnen der 9a behandeln das Thema «Mutprobe».
Der Fremde war Karin in der Stadt seit längerem aufgefallen. Irgendetwas an ihm liess sie nicht los; was es war, kann sie nicht sagen. Die 14-Jährige spricht jetzt wieder fliessend. Eine Mischung aus Stolz und Trotz ist aus ihrem Gesicht zu lesen. «Ich habe seine Adresse ausfindig gemacht.
Ich habe ihm einen Brief geschrieben. Ich habe eine Foto von mir beigelegt.»
Mut, ein Mädchen anzusprechen
Dominik lehnt sich zurück. Er faltet die Hände hinter seinem Kopf. «Eine Mutprobe ist für jeden etwas Anderes», sagt er. Und Fabian sagt: «Es braucht auch Mut, ein Mädchen anzusprechen.» Wer hat es schon einmal versucht? Gelächter. Hüsteln. Schweigen.
«Für mich war die Fahrt auf der Achterbahn eine Mutprobe», sagt Fabian. «Am Schluss ging es senkrecht runter, und dann zogen sie den Boden weg!» – «Mutproben sind ein männliches Phänomen», sagt die 14-jährige Sonja ernst. «Die Männer müssen sich halt beweisen, dass sie auch wer sind.»
Neben dem Lavabo des Klassenzimmers hängen die elf «Umgangsregeln» der 9a: «Ich achte auf meine Gefühle und die meines Mitschülers/ Lehrers. Ich versuche meine schlechte Laune nicht an meinen Mitschülern/Lehrern auszulassen. Ich respektiere die Kultur, den Glauben meines Mitschülers.» An der Schrankwand hängt die Hausordnung: «Fünftens. Nach Schulschluss stellen die Schüler die Stühle aufs Pult. Das Klassenzimmer ist kein Spiel- und Raufplatz.»
Eigene Fehler eingestehen
«Mut heisst, etwas auszusprechen, was andere nicht hören wollen», sagt Rahel. Toni: «Mut heisst, zu seinen Fehlern zu stehen.» Diana: «Mut heisst, über den eigenen Schatten zu springen.» Jetzt beginnt Maya lauthals zu lachen. «Mutproben…», sagt sie und schaut Dominik verschwörerisch an. Auch Dominik beginnt zu lachen. Zum Vorschein kommt eine alte Geschichte. Da gab es vor Jahren eine Bande. «Wir haben Aktionen durchgezogen, vom "Schtrübschte".» Wer dazugehören wollte, hatte eine Prüfung zu bestehen, und je unwillkommener der Neue, umso schwieriger war die Prüfung. Dominik: «Einen haben wir den Strättlighügel hinaufgejagt; oben musste er Salzwasser trinken; dann löffelten wir ihm Senf mit Pfeffer ein. Schliesslich gab er auf. Zum Glück.» Maya, Christoph, Dominik und Michel kugeln sich vor Lachen.
Nach einer Pause sagt Maya: «Heute will ich mit meinem Mut niemandem etwas beweisen. Nur mir.» Claudio ruft dazwischen: «Wie an der Kletterwand!» Jetzt lacht die ganze Klasse. Ja, sagt Maya, sie habe kürzlich die Kletterwand zum ersten Mal überstiegen. Fabian wirft ein, er schätze durchaus die Beobachter seines Muts. Beim Snowboarden mache er vor Publikum riskantere Dinge.
Karin: «Es gibt auch lächerlichen Mut. Fünf Biere als Mutprobe herunterzuleeren, das finde ich extrem doof. Da braucht es Mut, die Mutprobe nicht mitzumachen.» Fabian erklärt: «Männer brauchen Mut, um ihre Gefühle zu zeigen.» Claudio sagt: «Neulich sagte ich meinem besten Kollegen, dass ich ihn mag. Dazu brauchte ich ziemlich Mut.»
An der Rückwand des Schulzimmers hängen Poster von Claudia Schiffer, Lucky Luke und den Simpsons. Darunter Einzelporträts der 9a mit verschiedenen Bilanzen: «Auf dem Weg zu meinem Beruf. Was unternehme ich?» Auf dem kleinen Tischchen davor verschiedene Prospekte: «Coiffeuse, Coiffeur», «Post-Jobs», «Lehrstellen machen Profis.»
Was Promis unter Mut verstehen
Was ist eine Mutprobe? Pirmin Zurbriggen, mehrfacher Gewinner des Abfahrt-, Super-G- und Riesenslalom-Weltcups und damals mit über 140 Kilometern pro Stunde unterwegs, erklärt: «Ich wurde nicht in eine Gesellschaft hineingeboren, die Mutproben brauchte.»
Ex-Nationalrat Ernst Mühlemann, der schon vielen Mutigen dieser Welt die Hand gedrückt hat, kann sich sehr wohl an Mutproben erinnern. Seine Studentenrunde habe jeweils Worte ohne Sinn ausgeheckt. Wer es geschafft habe, Aussenstehende damit in ein Gespräch zu verwickeln, habe bestanden. Der Serviertochter sei beispielsweise geklagt worden, das Bier sei heute furchtbar «repupiert».
Wie sagte Dominik? «Eine Mutprobe ist für jeden etwas anderes.» Der junge Emil Steinberger wollte sich im Fastnachtstreiben nicht demaskieren. Mitternacht war vorbei, doch der jungen Frau mochte er sich nicht zu erkennen geben. Schliesslich wurde er mit ihr einig: Sollte er sie je wiedersehen, würde er sie mit «Harakiri» begrüssen. Es wurde Sommer. Emil spazierte mit seinen Eltern in der Stadt. «Plötzlich kam sie mir entgegen. Das Herz klopfte. Als sie auf der gleichen Höhe war, rutschte mir das Wort heraus.»
Die Pubertät, die Zeit der Umwälzungen und Ängste, ist nicht einfach durchzustehen – für alle Beteiligten. «Erziehung zur Mündigkeit», «Erziehung zum Leben», «Erziehung zu mehr Fairplay» – in der Zürcher Zentralbibliothek sind über 100 Bücher gelagert, die die Jugendlichen zu irgendetwas erziehen wollen. Über den Gewinn der Lektüre wird nicht Buch geführt. Und doch: Einiges deutet darauf hin, dass Jugendliche vermehrt Mut brauchen und Fachkräfte beanspruchen, die Mut machen.
Matthias Vogt ist seit fünf Jahren Ko-Leiter der Jugendberatungsstelle der Stadt Zürich. Das Durchschnittsalter seiner Klientel ist 18. «Die Suche nach dem Mut, auf eigenen Beinen zu stehen, die Ablösung vom Elternhaus, ist für viele der Grund für eine Konsultation», sagt der Psychologe.
Zu seiner Klientel gehören aber auch Jugendliche mit grossen Problemen wie Ängsten, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Essstörungen, depressiven Verstimmungen bis hin zu Selbstmordgedanken. «Jugendarbeitslosigkeit, Mangel an Lehrplätzen und Druck am Arbeitsplatz haben sich stark niedergeschlagen», sagt Vogt. Ein Termin ist innert Wochenfrist möglich – wenn erwünscht, ohne Preisgabe des eigenen Namens.
Vor allem junge Frauen sind bereit, sich auf einen therapeutischen Prozess einzulassen. «Es braucht Mut, sich den heutigen Anforderungen zu stellen», sagt Vogt. «Die Verlockung der künstlichen Paradiese darf nicht unterschätzt werden. Nicht zuletzt die neuen Spielformen wie Internet-Chats und Videogames offerieren die Möglichkeit, den eigenen Mut nur noch in der virtuellen Welt aufzubringen.»
Leute überfallen als Mutprobe
«Doch. Das brauchte schon Mut, was ich gemacht habe.» Der junge Mann kratzt sich am Hinterkopf. Seine kräftigen Hände krallen sich ineinander, ein Stossseufzer. «Mut…» Lorenz, der in Wirklichkeit anders heisst, ist 19. Die Spenglerlehre hat er vor zwei Wochen begonnen. Seine Laufbahn hat Brüche.
Mai 1998, ein Schulhaus am Rand von Zürich. Unter den Schülern treiben einige bandenmässig ihr Unwesen: Überfälle, Einbrüche. Zuerst ist Lorenz heimlich fasziniert. Dann wagt er den Schritt. «Per Zufall» plaudert er mit einem Mitglied der Gang. Wenig später steht er bei einem Autoeinbruch Schmiere.
Er spendierte die Beute in Spielsalons, in Kneipen. «Ich war jemand.» Zu den «Brüchen» kamen Überfälle. Die Gang packte ihre Opfer wahllos: mittags, abends, einmal auch nachts. Die jungen Räuber umzingelten den jeweiligen Passanten, schlugen ihn, traten ihn, hielten Ausschau nach möglichen Zeugen und forderten Geld. «Es war geil, dass einem alle gehorchten.» Im November 1999 wurde Lorenz auf frischer Tat ertappt. Ohne Widerstand liess er sich festnehmen.
Einmal fragte ihn sein Seelsorger, ob er die Angst in den Gesichtern seiner Opfer gesehen habe. Seither träumt Lorenz davon: «Die Gesichter verfolgen mich.» Beim umfassenden Geständnis überkam ihn «ein wirklich gutes Gefühl».
Lorenz weiss nicht, ob er jemandem einen bleibenden Schaden zugefügt hat. Nach der Freilassung möchte er ein Geschäft und eine Familie gründen. «Gaunerei ist nicht mein Weg», sagt er. Sein Blick ist offen. Er lächelt, dankt fürs Interview.
Mutlose stehen bald am Rand
Tattoos, Bungee-Jumping, U-Bahn-Surfen, Piercing, Tramfahren ohne Billett: Es gibt unzählige Wege, seinen Mut zu beweisen. «Risikokompetenz» zu erhalten gehört zu den wesentlichen Entwicklungsleistungen Jugendlicher. Damit ist gemeint: Gefahren nicht zu scheuen, sie aber auch richtig einschätzen zu können. Dass dabei auch Übermut vonnöten ist, versteht sich von selbst. Wer sich schwer tut mit dem Mut, steht bald einmal am Rand.
Mutproben haben eine lange Tradition. Sie sind verwandt mit den so genannten Initiationsriten, die sich bei fast allen Völkern finden. In einem solchen Ritus wird die Jugendzeit abgeschlossen. Um in die Erwachsenenwelt eintreten zu können, muss eine «Prüfung» abgelegt werden. Diese ist je nach Gemeinschaft unterschiedlich definiert, erfüllt aber immer denselben Zweck: Sie soll gesellschaftlichen Zusammenhalt stiften. Soziologen beklagen, dass solche Initiationsriten in der westlichen Welt am Verkümmern sind.
Ein Initiationsritus freilich hat dem westlichen Wertezerfall die Stirn geboten. Die Rede ist vom Eintritt in die Schweizer Armee.
Grösse Tarnanzug: 36; Grösse Kampfstiefel: 39. Am 10. Juli wurde Sabine Bregy, soeben 20 Jahre alt geworden, in den «Zug Sommer» der Train-RS 220 in St. Luzisteig GR eingeteilt. Mit von der Partie: zwei weitere Frauen – und 168 Männer. Die Ausbildung gehört zu den körperlich anspruchsvollsten: Trainsoldaten transportieren militärisches Material durch unwegsames Gebiet – mit Hilfe von Pferden. «Ich sagte Ja zu etwas, das ich nicht kannte», sagt «Soldat Bregy» – das Wort «Soldatin» gibt es in der Militärsprache nicht. «Okay, das brauchte schon etwas Mut.»
Viel Bewunderung hat sich die zierliche Frau mit diesem Entscheid nicht eingehandelt. «Meine Kolleginnen und Kollegen, meine Freunde, die Lehrer – alle sagten, ich spinne.» Vor allem die Mutter konnte den Wunsch der Tochter nicht verstehen. Der angehende Soldat liess sich nicht beirren. «So vieles wird uns heute so einfach gemacht. Ich suchte eine Möglichkeit, die eigenen Grenzen zu erkunden.»
Während 15 Wochen darf Soldat Bregy ihre Haare nicht offen tragen. Nicht jeden Morgen reicht die Zeit für den Eyeliner. Die Dusche ist nur einmal täglich frei. Und da gibt es diese Anzüglichkeiten, diese Herrenwitzchen am Mittagstisch – präsentiert von den einen, unterbrochen von andern, oft noch bevor die Pointe kommt: «He! Pass auf! Da ist noch eine Frau!» Den Warnern, sagt Bregy, sei die Sache meist peinlicher als ihr selbst.
Am 20. Oktober wird das letzte Hauptverlesen in St. Luzisteig stattfinden. Drei Tage später beginnt Sabine Bregy ihr Studium. Hauptfach: Psychologie.
Angst vor dem ersten Schultag
Etwas stiller als auf dem Waffenplatz geht es im Schulzimmer in einer kleinen Aargauer Stadt zu und her. Die fünf Buben und sechs Mädchen tauchen konzentriert die Pinsel in ihre Eierschachteln. Zeichnen steht auf dem Programm.
Seit fünf Tagen ist Vivienne jetzt bei Frau Hess. «Nein, seit drei!», ruft Simon. «Zwei», raunt Nadine. Es ist Mittwoch. Von der Stoffkatze auf dem grossen Schreibpult vorn im Raum hat Vivienne bereits ein Auge abgezeichnet. Ihre Lieblingsfarbe ist Grün.
Sie dachte, das Zimmer sei dunkler. Sie dachte, die Stühle hier hätten Rädchen. Vivienne, seit wenigen Tagen in der Klasse 1c, möchte Schwimmerin werden. Ja, sie hatte Angst vor dem ersten Schultag. «Ja, das brauchte Mut.»