Der Glaube ersetzt den Beweis

«Die Seele spielt im Leben eine grosse Rolle», erfahren wir an der nächsten Station unserer Reise, im Zisterzienserkloster Wurmsbach in Bollingen SG bei Rapperswil-Jona. «Wenn die Seele nicht mehr lebt, bin ich tot», sagt Schwester Teresa Grollimund, die mit ihren 76 Jahren erstaunlich jugendlich wirkt und, mal abgesehen von der klösterlichen Tracht, in gar nichts an eine Ordensfrau erinnert. Ihr Büro ist lichtdurchflutet und ausgestattet mit modernen Designmöbeln. Das kleine Holzkreuz, das in einer Ecke des Raumes hängt, dürfte in vielen Privathaushalten in einer grösseren Ausgabe zu finden sein.

So luftig das Büro, so offen ist die Weltsicht von Schwester Teresa. «Ich finde meine Seele in der Zen-Meditation», verrät sie, die Jugendliche und Erwachsene in dieser buddhistischen Meditationstechnik anleitet. Es habe in ihrem Leben Momente gegeben, in denen sie wenig Kontakt zu ihrer Seele gehabt habe, «in denen ich meinen Glauben an Gott verloren hatte und mich fragte: Wo ist er nun, der Gott?». Aber immer sei sie überzeugt gewesen, dass «die Seele lebt und Gott in ihr». Für sie sei die Seele auch Liebe, «denn wie die Seele ist auch die Liebe ein Begriff, der existiert, ohne bewiesen werden zu müssen».

Dualismus und Materialismus

Diese Liebe erfahre sie, die vor 44 Jahren ins Kloster eingetreten ist, jeweils in der Stille der Meditation. «Ich fühle manchmal Farben und Spritzer der Seele. Ich spüre Licht und Berührung.» So beschreibt Schwester Teresa den Kontakt zu ihrer Seele. In so einer Phase fielen ihr hie und da auch Entscheidungen zu, wenn sie unsicher sei, was sie tun solle. Das könne aber nur geschehen, wenn man sich auch mit seiner Seele beschäftige, sie nähre. Denn die Seele habe Hunger nach Geistigem ebenso wie nach Engagement. Es sei wichtig, dass man mit ihr arbeite. Vor allem das vermisst Schwester Teresa bei der jungen Generation. Der Seelenhunger werde in der Regel mit technischen Hilfsmitteln wie Handy, Fernseher oder PC-Spielen gestillt.

Natürlich sei es schwieriger, in der Stille auszuhalten, als sich der Unterhaltung hinzugeben. Aber wer seine Seele suche, der finde sie. «Die Seele sitzt in jeder Zelle, füllt den ganzen Menschen, ist eine Einheit mit ihm und hat keinen bestimmten Ort», erklärt sie.

Der Ansicht der Ordensfrau, dass die Seele den ganzen Körper durchdringe, stellt die moderne Neurowissenschaft, also die Nerven- und Hirnforschung, eine materialistische Sicht entgegen. Danach sind es die biologischen Grundprozesse, die uns überhaupt ermöglichen, uns selbst wahrzunehmen. Das Gehirn gilt als Sitz der Seele nur heisst sie eben nicht Seele, sondern Bewusstsein oder Ich-Erkenntnis.

Ausserkörperliche Erfahrungen

Zwischen diesen zwei Ansichten positioniert sich der Psychiater Daniel Hell. Der Facharzt an der Klinik Hohenegg ZH gilt als Verfechter der Bezeichnung Seele. Das, was im Gehirn der Menschen geschieht, nennt er seelisches Erleben. «Je mehr wir in einer technischen Welt zu Hause sind, umso wichtiger wird dem Menschen das Erleben, also auch die Seele», ist Hell überzeugt. Und umso mehr gehöre es heute zur Aufgabe der Ärzte, auch das seelische Erleben bei der Behandlung zu berücksichtigen. Immerhin heisst Psychiater übersetzt nichts anderes als Seelenarzt.

Doch Seele ist kein Begriff wie Tisch, Gebirge oder Gehirn. «Sie ist eher ein Wort wie Liebe, Wahrheit oder Vertrauen», erläutert Hell seine Ansichten. «Es braucht Mitgefühl, Mitleiden, Empathie oder Wahrhaftigkeit, um die Seele zu nähren. Das hat mit Interaktion zu tun.» Die Wissenschaft kann zwar mittels Hirnstrommessungen (EEG) Erlebnisse sichtbar machen. Das heisst, sie kann zuordnen, welche Hirn-areale bei welchem Erlebnis aktiv sind. «Das gibt jedoch nicht das Erleben wieder, sondern zeigt nur die Vorgänge im Gehirn während dieses Erlebnisses auf», kritisiert Hell. «Die chemischen Vorgänge bei Angst im Gehirn darzustellen ist etwas anderes, als Angst tatsächlich zu erleben.»

Und immerhin machen solche Erlebnisse die Persönlichkeit oder eben die Seele eines Menschen aus. «Die Seele», schliesst Daniel Hell, «macht den Menschen zu einer Person. Ohne seelisches Erleben wären wir kalte, gleichgeschaltete und leere Hüllen.»

Was geschieht, wenn die Seele, oder eben das Ich-Bewusstsein die Hülle verlässt, erforscht Lukas Heydrich an der Eidgenössischen Polytechnischen Hochschule in Lausanne (EPFL), genauer gesagt am Institut für Kognitive Neurowissenschaften (LNCO). Heydrich setzt sich intensiv mit dem Ich auseinander. Der Mediziner, der auch am Universitätsspital Genf arbeitet, will mit Versuchen zu veränderter Körperwahrnehmung, zum Beispiel ausserkörperlichen Erfahrungen, dem Ich-Bewusstsein auf die Spur zu kommen.

Gemäss Schätzungen haben rund fünf Prozent der Bevölkerung schon einmal ausserkörperliche Erfahrungen gemacht. «Das kann in verschiedenen Situationen passieren», erklärt Heydrich, «sei es unter Drogeneinfluss, bei einem traumatischen Erlebnis, vor dem Einschlafen, bei extremer Entspannung oder bei einem epileptischen Anfall.» Ein typisches Beispiel ist ein Patient, der sich selbst an der Decke über seinem Körper schweben sieht oder in einer Ecke des Zimmers sitzend, während sein Körper auf einem Stuhl gegen-über hockt.

Das Hirn arbeitet, so gut es kann

Esoteriker sehen in diesen Phänomenen einen Beweis für eine unabhängige Seele. Nicht so der Arzt und Neurowissenschaftler Heydrich. Für ihn sind sie neurologisch erklärbar: «Unser Gehirn nimmt unseren Körper über verschiedene Sinne wahr und erkennt sich so selber über den Tastsinn, über das, was das Gehirn via Augen als Informationen bekommt, über den Bewegungssinn und den Lagesinn, der uns mitteilt, wo im Raum wir uns befinden.» Diese Sinneseindrücke füge das Gehirn zu einer Information zusammen. «Erkennt es also vor den Augen eine Hand, die von etwas berührt wird, und spürt es zugleich diese Berührung, folgert das Hirn daraus, dass es unsere Hand ist.»

Ist das Erleben des eigenen Körpers über die Sinne und die räumliche Wahrnehmung gestört oder blockiert, erhält das Hirn widersprüchliche Informationen, die es nicht zu einem ganzen Bild zusammensetzen kann. Es berechnet die Situation anhand der vorhandenen Informa‑tionen neu und setzt den Körper an die Stelle im Raum, die aus seiner Sicht am sinnvollsten ist. Diese Illusion gaukelt uns das Hirn als unser eigenes Ich vor. «So entstehen ausserkörperliche Wahrnehmungen durch ein gestörtes Ich-Erleben im Raum», erklärt Heydrich.

Lukas Heydrich, Neurowissenschaftler

Bewusstsein braucht Wahrnehmung

In seinen Experimenten überlistet der Neurologe das Gehirn mit Illusionen. Er legt einem Probanden zum Beispiel eine Gummihand vor und streicht mit einem Pinsel im selben Rhythmus darüber, in dem er die durch einen Sichtschutz verdeckte echte Hand des Probanden berührt. «Es geht meist nicht lange, und sein Gehirn akzeptiert die Gummihand als die eigene.» Es sieht, wie etwas die Gummihand berührt, und bekommt von seiner eigenen Hand die Berührungsinformation. Daraus zieht es die Folgerung, dass die Gummihand zu ihm gehört.

Diese Mechanismen spielen laut Lukas Heydrich auch bei sogenannten Nahtoderfahrungen: Einerseits mobilisiert das Gehirn im Todeskampf die letzten Reserven und schüttet alle möglichen Hormone aus, anderseits sind die Nachrichtenübermittlungen der verschiedenen Sinne gestört. Also errechnet das Hirn anhand der dürftigen Informationen das wahrscheinlichste Ich im Raum. Und dieses muss nicht dieselbe Position einnehmen wie der Körper. Nach solcher Erfahrung erinnern sich Betroffene an die ausserkörperliche Position, «denn ohne Körperwahrnehmung gibt es kein Ich-Bewusstsein», so Heydrich.

Dieses Experiment zeigt deutlich: Das Ich ist nicht sehr fest verankert und kann leicht übertölpelt werden. Darum ist Lukas Heydrich überzeugt, dass man es auch modifizieren kann. «Ich denke, dass selbst etwas so Komplexes wie die Persönlichkeit letztlich ein hirnorganischer Prozess ist», so der Wissenschaftler, «und der kann durch Eingriffe wie zum Beispiel eine Hirnverletzung oder eine Tiefenhirnstimulation verändert werden.»

Alle Wege führen über das Gehirn

Bei der Tiefenhirnstimulation (DBS) – umgangssprachlich auch Hirnschrittmacher genannt – werden dem Patienten Elektroden ins Gehirn eingepflanzt. Mit elektrischen Impulsen regen sie tiefliegende Hirnregionen an und können dort Empfindungen beeinflussen. Neurologen behandeln mit dieser Methode Parkinson- oder Epilepsiepatienten und hoffen, so in naher Zukunft auch psychische Beschwerden wie zum Beispiel Depressionen heilen zu können. Manche träumen bereits davon, Menschen mittels DBS Gefühle und Eindrücke einpflanzen zu können.

Der Psychiater Daniel Hell ist bezüglich der Tiefenhirnstimulation weniger euphorisch: «Es kann keine Rede davon sein, dass DBS die Stimmungslage von Menschen anhaltend verändert.» Dennoch setzt die Wissenschaft dem Hirn das Skalpell an oder Elektroden ein – also der Persönlichkeit, dem Bewusstsein oder eben der Seele. Denn wie sagt Manfred Spitzers so treffend: «Ich bin das Gehirn.»


Im Jahr 2004 sorgte die These, dass ein bestimmtes Gen die Spiritualität beeinflusse, für Aufregung.

Der Molekularbiologe Dean Hamer sorgte 2004 weltweit für Schlagzeilen. Sein Buch «Das Gottes-Gen» entfachte eine heftige Debatte. Laut Hamer, 59, ist die Neigung zur Spiritualität in unseren Genen festgeschrieben, der Glaube an eine Seele genetisch bestimmt.

Der renommierte US-Wissenschaftler stützte sich auf Aussagen von über 1000 Personen, die er zu ihren Lebensgewohnheiten befragt hatte, unter
anderem zum spirituellen Erleben.

Er entdeckte, dass all diejenigen, die angaben, einen ausgeprägten Hang zur Spiritualität zu haben, dieselbe Variante des Gens VMAT2 besassen. VMAT2 bestimmt zusammen mit anderen Genen, welche Botenstoffe im Gehirn zirkulieren und unser subjektives Erleben beeinflussen. Hamer schreibt dieser Genvariante deshalb eine spirituelle Wirkung zu.

Dass Glaube und Spiritualität nicht von einem einzigen Gen abhängen können, räumt selbst Hamer ein. Das gefundene Gen spiele höchstens eine kleine, wenn auch wichtige Rolle. Hamer spekulierte, dass es viele andere Gene geben muss, die jedes für sich einen kleinen Teil zur spirituellen Veranlagung des Menschen beitragen. Demnach sei der Hang zu Spiritualität und religiösem Glauben angeboren – und biete einen evolutionären Vorteil: Er verleihe uns Optimismus und den Willen zur Selbsterhaltung. Je nach Wechselwirkung mit dem sozialen Umfeld präge er sich stärker oder schwächer aus.

Mittlerweile ist es um das Gottes-Gen ruhig geworden. Denn heute weiss man um die Komplexität des menschlichen Erbguts, und eine vereinfachende genetische Erklärung zu einem komplizierten Merkmal wie der Spiritualität erscheint absurd. Viele Biologen sind aber überzeugt, dass der Glaube einen evolutionären und damit auch genetischen Hintergrund haben muss.

 

  • Kloster Wurmsbach: www.wurmsbach.ch
  • Institut für kognitive Neurowissenschaften der EPF Lausanne: http://lnco.epfl.ch
  • Thomas Vasek: «Seele. Eine unsterbliche Idee»; Ludwig-Verlag, 2010, 352 S., 34.90 CHF
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Waltraud von Allwörden wird bald sterben. Den genauen Zeitpunkt ihres Todes kennt die 60-Jährige natürlich nicht, aber sie weiss, dass er bevorsteht. Die ehemalige Röntgenassistentin hat Krebs in fortgeschrittenem Stadium – Brustkrebs mit Metastasen, also Ablegern im ganzen Körper. Heilung gibt es nicht. Eingefallen und kraftlos liegt sie auf ihrem Bett im Hospiz Zürcher Lighthouse, in das sie gekommen ist, «um», wie sie sagt, «mein Leben zu beenden».

Bewegungen fallen ihr schwer, Gedankengänge kommen nur noch langsam zustande. Ein regelmässiges Zischen verrät, dass Waltraud von Allwörden über ihre Infusion auch Morphium bekommt, damit die Schmerzen erträglicher sind. «Ich habe langsam Gedächtnisschwund», sagt sie und sucht verzweifelt nach Worten, die ihren Gefühlen Ausdruck geben. Angst vor dem Sterben hat sie nicht, denn eines weiss sie: «Der Tod wird nicht das Ende sein.»

Als ob etwas wegginge

Es ist ein düsterer 2. November, der Gedenktag Allerseelen, an dem Gebete, Almosen und Fürbitten die Leiden der Armen Seelen, der Verstorbenen im Fegefeuer, erleichtern sollen. Im Hospiz Zürcher Lighthouse wollen wir der Seele auf die Spur kommen. Kein leichtes Unterfangen, denn die moderne Wissenschaft verdrängt immer mehr das althergebrachte Bild von der allumfassenden Seele, die noch niemand wirklich gesehen hat.

Wie denkt jemand über die Seele, der beruflich mit dem Sterben zu tun hat? Nadja Schnyder, die stellvertretende Pflegedienstleiterin am Hospiz, hat ein gutes Dutzend Menschen beim Sterben begleitet und unzählige Patienten kurz vor oder nach dem Sterben gesehen. Ein schwieriger Job, den die 32-jährige Pflegefachfrau zu erledigen hat. Und ein belastender: «Es ist nicht immer einfach, sich täglich mit Schwerstkranken und Sterbenden auseinanderzusetzen und dabei auch an die eigene Vergänglichkeit erinnert zu werden.»

Schon früh kam Nadja Schnyder mit dem Tod in Berührung. Als sie noch in Ausbildung war, starb ein Patient unerwartet, während sie ihn wusch. «Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte», erzählt sie. «Ich war vollkommen unvorbereitet.» Heute erkenne sie die Anzeichen, wenn ein Patient sterbe. «Es ist immer eine ganz spezielle Atmosphäre.» Irgendetwas sei dann im Raum. Die Seele? «Für mich ist klar, dass die Seele da ist. Aber was genau diese Atmosphäre in der Nähe von Sterbenden ausmacht, weiss ich nicht.» Schnyder hat jeweils das Gefühl, das Zimmer eines Sterbenden sei eine Insel im Hospiz. «Alles läuft langsamer ab. Es herrscht eine spe-zielle Ruhe im Zimmer.»

Nadja Schnyder ruft sich ein prägendes Erlebnis in Erinnerung: «Da war eine Frau, von der man nicht erwartete, dass sie so schnell sterben würde», erzählt sie. Plötzlich habe die Patientin begonnen, aus Mund und Nase zu bluten. «Die Frau wirkte verkrampft und angespannt, und sie kämpfte sichtlich gegen den Tod an. Doch dann, als ob etwas wegging, entspannten sich ihre Gesichtszüge, und sie starb.» Aber gesehen habe sie eine Seele noch nie. «Ich glaube auch nicht an Geister», sagt sie lachend. «Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was da alles auf unseren Gängen herumschwirren würde.»

Aber Schnyder hat ein klares Bild von der Seele: «Es ist das Innerste des Menschen, das, was ihn ausmacht. Sie ist etwas Geheimnisvolles und Verletzliches, und sie bleibt nach dem Tod bestehen.» Dass nach dem Sterben nichts mehr sein soll, kann sie sich nicht vorstellen.

«Ich fühle manchmal Farben und Spritzer der Seele. Ich spüre Licht und Berührung.»

Teresa Grollimund, Zisterzienserin

Körper, Seele und Geist

In der Antike galt die Seele (griech. psyche = Atem) als von den Göttern eingehauchte Lebenskraft. Der von Platon (427-347 v. Chr.) geprägte Leib-Seele-Dualismus, also die Vorstellung von der Koexistenz von Körper und Seele, beeinflusste die christ-liche Theologie und lebte im Denken der Neuzeit fort; er gipfelte im Leib-Seele-Problem, René Descartes (1596–1650) berühmter These von Leib und Seele als zwei völlig getrennten «Substanzen».

Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert vollzog sich jedoch eine Abkehr vom substanziellen Seelenbegriff, und ab dem 19. Jahrhundert wurde er schliesslich durch andere Begriffe ersetzt – in der Philosophie etwa durch «Geist», «Bewusstsein», «Ich» oder «Selbst», in der Psychologie meist durch den Ausdruck Psyche. Im 20. Jahrhundert haben naturwissenschaftliche Erkenntnisse unser Menschenbild ein weiteres Mal radikal verändert. Aus Sicht der modernen Hirnforschung beruhen alle geistigen Phänomene allein auf neurobiologischen Prozessen. Unser Geist ist demnach nichts anderes als die Summe dieser Prozesse im Gehirn. In diesem Bild ist kein Platz mehr für eine immaterielle Seele, die womöglich den Tod überdauert.

Ein gigantisches Netzwerk

Bis heute können allerdings weder Hirnforscher noch Philosophen erklären, wie sich aus elektrochemischen Prozessen in den Nervenzellen Geist und Bewusstsein bilden können. Die schier unfassbare Komplexität unseres Gehirns mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen entzieht sich hartnäckig einer Antwort. Wir wissen nicht, welche Mechanismen auf molekularer Ebene uns einmalig und unverwechselbar machen, wie also unsere Identität entsteht.

Erschwerend kommt hinzu, dass sich alle Menschen einen ähnlichen genetischen Grundplan und damit die Bauanleitung des Gehirns teilen. Wie aber entstehen aus diesem Bauplan unterschiedliche Persönlichkeiten mit individuellen Gedanken und unverkennbaren Eigenschaften? Antworten darauf suchen die Neurobiologen unter anderem bei den Synapsen, den sich ständig verändernden Schaltstellen der Nachrichtenübermittlung zwischen den Nervenzellen.

Alle Nervenzellen haben einige wenige bis mehrere tausend solcher Schaltstellen. Bei 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn ergibt das ein Netzwerk von gigantischem Ausmass. Dieses verändert sich laufend; Synapsen können gebildet und abgebaut werden. Äussere und körperliche Reize beeinflussen die Häufigkeit. Anhand dieses Netzwerks lässt sich möglicherweise die Existenz höherer geistiger Funktionen erklären. Da es sich aufgrund persönlicher Erfahrung indviduell ausbildet und formt, könnte es auch die Individualität des einzelnen Menschen begründen.

Das Hirn als Schale der Identität

Der deutsche Psychiater und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer beschäftigt sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Fragen zum Bewusstsein. Er sagt: «Ich habe nicht ein Gehirn, ich bin das Gehirn.» Was unsere Identität ausmache, befinde sich in diesem höchst komplexen Organ, das sich allen Versuchen einer tiefergehenden Erklärung hartnäckig verweigert. Mit dieser Sichtweise des Bewusstseins als Funktion des Körpers kommt der Leiter des Transferzentrums für Neurowissenschaften und Lernen in Ulm dem Seelenverständnis von Waltraud von Allwörden ziemlich nahe.

Die Frau, die auf den Tod wartet, unterscheidet zwar Körper und Seele, ist aber überzeugt, dass beide zusammengehören. «Stirbt mein Körper, stirbt auch meine Seele, und es ist nichts mehr.» Waltraud von Allwörden glaubt nicht an ein Weiterleben nach dem Tod, sondern an eine Auferstehung im Paradies.

Daniel Hell, Psychiater, Klinik Hohenegg ZH