Zur Person

Michael Hermann, 46, ist Politgeograf und Leiter des Forschungsinstituts Sotomo. Er lehrt am Geografischen Institut und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.

Beobachter: Eine kleine Gruppe von Libertären provoziert mit der No-Billag-Initiative eine Grundsatzdebatte über den Service public und die Rolle des Staats. Überrascht Sie das?
Michael Hermann: Nein. Es sind oft Kreise ausserhalb der etablierten Parteien, die breite Debatten auslösen. Denken Sie an die Zweitwohnungs-, die Verwahrungs-, die 1:12-Initiative und das bedingungslose Grundeinkommen. Dahinter standen Einzelkämpfer, ausserparlamentarische Gruppen oder Jungparteien, die etwas zum Thema machten, was etablierte Parteien vernachlässigt hatten. Bei «No Billag» die ernsthafte Debatte über den Wert des Service public.

Beobachter: «No Billag» will die Rolle des Staats zurückdrängen. Die anderen Initiativen wollten mehr Regulierung. Zufall?
Hermann: Neu ist, dass eine junge Basisbewegung die Rolle des Staats radikal in Frage stellt. Antietatistische Forderungen kamen früher ja eher aus Altherrenzirkeln. Überhaupt waren starke Ideologien nach dem Ende des Kalten Kriegs verpönt. Heute ist die reine Lehre wieder attraktiv – gerade für Junge. Das zeigt sich bei der Linken ja schon länger, mit den Juso. Auch sie politisieren stark ideologisch. Kürzlich verlangten sie die Verstaatlichung des Bodens oder eine 25-Stunden-Arbeitswoche. Die Libertären sind so etwas wie die Juso der Liberalen.

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Beobachter: Werden damit ideologische Grabenkämpfe in der Politik wieder zunehmen?
Hermann: In der praktischen Politik haben sie eher abgenommen. Bei der Rentenreform etwa geht es fast nur um die Feinjustierung eines Systems, das kaum grundsätzlich in Frage gestellt wird. Für die politische Kommunikation aber sind radikale und zugleich einfache Anliegen wie die 1:12-Initiative oder eben «No Billag» sehr attraktiv. Je stärker sie die Debatte prägen, desto grösser wird der Druck auf die etablierten Parteien, sich diesem Stil anzupassen. So hat sich zum Beispiel die SP unter dem Einfluss der Juso bereits nach links bewegt. Die Frage ist, ob sich nun die FDP wegen der Libertären nach rechts bewegt.

Beobachter: Bis in die achtziger Jahre kritisierten vor allem Linke den Staat als zu autoritäre und zu bürgerliche Macht. «Mached us em Staat Gurkesalat» war eine linksanarchistische Parole gegen den bürgerlichen «Erziehungsstaat». Ähnlich wettern heute Libertäre.
Hermann: Der Protest, der sich damals im Opernhauskrawall und in einer Jugendbewegung entlud, richtete sich gegen eine einseitige Förderung bürgerlicher Kultur- und Lebensräume. Die bewegte Jugend rieb sich an der Obrigkeit und wollte einen anderen Staat. Die Libertären anderseits scheinen wirklich Gurkensalat aus ihm machen zu wollen. Die Linke ist dagegen schon fast verheiratet mit dem Staat. Das liegt daran, dass er seinen Charakter stark gewandelt hat. Früher war es ein eher väterlicher Staat, der das Feindbild der Linken wurde. Einer, der pflichtbewusste, angepasste und wehrhafte Bürger zum Ziel hatte. Heute ist es eher ein bemutternder Staat, der eher die Rechten provoziert. Einer, der soziale, gesunde und politisch korrekte Bürger will. Rauchverbote und Präventionskampagnen sind ein Ausdruck davon.

 

«Heute ist der Staat eher bemutternd und provoziert so eher die Rechten.»

 

Michael Hermann, Politgeograf

Beobachter: Ist der Staat linker geworden?
Hermann: Zumindest liegen viele seiner heutigen Aufgabenbereiche – vom Sozialen über die Integration bis zum Umweltschutz – Linken mehr am Herzen als Rechten. Selbst die Hochkultur, die früher freisinnig geprägt war, hat sich Richtung links geöffnet. Das Zürcher Opernhaus zum Beispiel wird mit Markus Notter von einem ehemaligen SP-Regierungsrat präsidiert. Oder die Schulen: Früher standen viele Lehrpersonen der FDP nahe, heute ist das ein typisches SP-Milieu. Das Lamentieren über den ausufernden Staat gehört für Bürgerliche heute zum guten Ton. Obwohl es ja noch immer die bürgerliche Mehrheit ist, die die Höhe der Staatsausgaben bestimmt.

Was wollen die No-Billag-Initianten?

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Was wollen die No-Billag-Initianten?

Ein Kommentar von Beobachter-Redaktor Peter Johannes Meier.

Beobachter: Aber selbst Bürgerliche rufen nach dem Staat. So wollen sie Hoteliers gegen die Übermacht der Plattform Booking.com verteidigen oder das Taxigewerbe gegen Uber.
Hermann: Neue Arbeitsformen zu regulieren wird für den Staat immer schwieriger, weil er zu langsam ist und weil die Arbeitgeber weltweit organisiert sind. Und so mischt sich die Angst vor schlechteren Arbeitsbedingungen und sozialem Abstieg in die Hoffnung auf innovative Technologien und neue Arbeitsformen. Daher finden sich häufig breite sozialkonservative Allianzen, die die einheimische Behaglichkeit dem technischen Fortschritt und der Globalisierung nicht einfach opfern wollen. Auch dieser Protektionismus hat zur Mobilisierung der Libertären beigetragen.

Beobachter: Bei «No Billag» kam es aber zu einer Allianz zwischen Libertären und Konservativen. Ein Widerspruch?
Hermann: Ja, denn viele Konservative stellen sich aus ganz anderen Gründen gegen die SRG. Sie wollen sie nicht abschaffen, sondern abstrafen, weil sie angeblich zu links und zu elitär ist. Die Libertären haben sich diese Kritik zunutze gemacht. Erst durch das Zusammentreffen dieser beiden Ebenen der Kritik erhält die Vorlage ihre Sprengkraft.

Beobachter: Die Forderung nach Liberalisierung ist weder neu noch im Parlament untervertreten. Warum jetzt dieser Aufbruch?
Hermann: Die meisten Liberalisierungsversuche sind gescheitert. Beim Strommarkt ist die Bevölkerung dagegen, sobald die Post eine Filiale schliessen will, gibts massive Proteste. Hier will die Bevölkerung meist mehr Staat. Sie ist auch klar für Sozialwerke wie die AHV, die Libertäre ja wegen des Umverteilungseffekts ablehnen. Daher ist die Allianz mit den Konservativen so wichtig für den Höhenflug von «No Billag».

Beobachter: Legalisierung von Drogen, Abschaffung der Wehrpflicht – das sind ebenfalls Anliegen der Libertären. Sind hier auch Allianzen mit den Linken denkbar?
Hermann: Theoretisch ja. Die meisten Libertären tendieren aber eher nach rechts. Ihre Energien lassen sich darum einfacher gegen links mobilisieren. Es ist kein Zufall, dass es im liberalen Spektrum mit der Operation Libero noch eine zweite junge Bewegung gibt, die oft genau in die Gegenrichtung geht – auch bei «No Billag».

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