Beobachter: Nils Melzer, als Rechtswissenschaftler und Experte für humanitäres Völkerrecht: Was hat der Fall Julian Assange bei Ihnen ausgelöst?
Nils Melzer: Eine Krise – beruflich, aber auch persönlich.


Inwiefern?
Ich befasse mich seit 20 Jahren mit Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen, und dies nicht nur akademisch. Mit dem IKRK arbeitete ich jahrelang in Kriegs- und Krisengebieten, wo ich täglich mit Unrecht, Gewalt und Folter konfrontiert war. Dennoch hatte ich mir stets eine gewisse Systemgläubigkeit bewahrt, dass wenigstens hier in Westeuropa der Rechtsstaat funktioniert. Wenn es aber wirklich darauf ankommt, ist dem leider ist nicht so.


Wann wurde Ihnen das klar?
Nachdem ich am 8. April 2019 einen Besuch bei Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London angekündigt hatte, um angebliche Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, koordinierten die involvierten Staaten umgehend eine Blitz-Aktion: Drei Tage später entzog ihm Ecuador ohne jedes Verfahren den Asylstatus und die Staatsbürgerschaft und liess ihn durch die britische Polizei verhaften und aus der Botschaft zerren. Gleichzeitig nahm die britische Regierung ein bereits vorbereitetes Auslieferungsgesuch der US-Behörden entgegen und liess den völlig überrumpelten Assange einem bereits wartenden Strafrichter vorführen, der ihn ins Hochsicherheitsgefängnis verlegte – alles innert weniger Stunden. Da wurde mir klar, dass ich in ein Wespennest gestochen hatte. 


Liest man Ihr Buch, hat man den Eindruck einer grossen Verschwörung.
Nein, das ist keine Verschwörung, sondern ganz banal. Das allgemein akzeptierte Narrativ der Behörden lautet «Assange ist ein Übeltäter und muss zur Strecke gebracht werden». Um dies nicht hinterfragen zu müssen, werden dann die Regeln bei jedem Entscheid etwas gedehnt und wenn nötig auch gebrochen –stets zu Assanges Nachteil.


Und das reicht, um rechtsstaatliche Garantien gleich reihenweise auszuhebeln?
Wir Menschen haben die natürliche Tendenz, Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Wer sich in der Gruppe exponieren oder Widerstand leisten müsste, um das moralisch Richtige zu tun, tendiert leider meistens zu passiver Konformität. Das moralische Dilemma wird mit allerlei Rationalisierungen verdrängt, welche einer objektiven Überprüfung kaum je standhalten. Unzählige solcher kleinen Entscheidungen können am Ende durchaus schlimme Konsequenzen haben. Hannah Arendt hat diese «Banalität des Bösen» sogar mit Blick auf die Judenvernichtung beschrieben, welche die Nazis oft als reinen Verwaltungsakt wahrnahmen.


Wir reden hier aber nicht von einem totalitären System, sondern freien, westlichen Staaten wie Schweden und England.
Auch hier sind die Wurzel solcher Missstände meist ganz banale menschliche Schwächen, die wir unbewusst und sehr effizient verdrängen. Seit der Aufklärung glauben wir an das Ideal von Vernunft, Moral und Allgemeinwohl. Mittlerweile belegen aber unzählige neurobiologische und sozialpsychologische Studien, dass wir uns in Wirklichkeit vor allem von Emotionen und kurzfristigen Eigeninteressen leiten lassen – nicht nur «böse» Menschen, sondern wir alle.


Sprechen Sie damit nicht die Verantwortlichen von jeder Schuld frei?
Natürlich sollen die Verantwortlichen auch persönlich zur Rechenschaft gezogen werden. Aber wenn ein System so ausgestaltet ist, dass es Missverhalten zulässt oder sogar fördert, dann genügt es eben nicht, einzelne Missetäter abzustrafen, und danach einfach andere Menschen an dieselbe Stelle im System zu setzen.


Sondern?
Wir müssen uns fragen, wie wir unsere Institutionen – unsere Regierungsgeschäfte, unsere Justiz und Behörden – ausgestalten, um sie gegen diese menschlichen Schwächen zu wappnen. Unser System braucht ein Upgrade.

«Julian Assange ist gewissermassen die Leiche im Keller des selbstgerechten Westens.»

Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter über Folter

Das Folterverbot wurde mit Wortschöpfungen wie «erweiterte Verhörmethoden» ganz gezielt untergraben. Helfen da Veränderungen am System?
Solche Entscheidungen werden selten mit krimineller Absicht getroffen. Die Agenten, die diese Foltermethoden entwickeln und anwenden, arbeiten vielleicht ein Leben lang für den Geheimdienst und sind selber überzeugt, der Sicherheit des Landes zu dienen, indem sie hart gegen «die Bösen» vorgehen. Dasselbe lässt sich bei Soldaten beobachten, die Kriegsverbrechen begehen: Sie verstehen oft den Sinn ihres Einsatzes nicht, fühlen sich konstant bedroht, die ganze Umwelt ist feindlich, jeder Zivilist könnte ein Terrorist sein, also darf man auch jeden Zivilisten bekämpfen… Die Ursache des Problems liegt selten bei den einzelnen Agenten und Soldaten, die die «Drecksarbeit» verrichten, sondern fast immer in einer fehlgeleiteten Politik, die diese Menschen einem unerträglichen moralischen Dilemma aussetzt.


Und was motiviert die Verfolgung von Assange?
Vereinfacht gesagt will man verhindern, dass die schmutzigen Geheimnisse der Mächtigen an die Öffentlichkeit kommen. Die Methodologie von Wikileaks, der vollständig anonyme, verschlüsselte Transfer von grossen Datenmengen, ist einfach replizierbar und erlaubt es Whistleblowern, unsaubere Machenschaften fast risikolos zu exponieren. Das gefährdet das vorherrschende, zunehmend undurchsichtige Geschäftsmodell von Regierungen, Geheimdiensten und Grossunternehmen, die hinter den Kulissen sehr eng miteinander verbandelt sind.


Soll man denn auf Geheimhaltung ganz verzichten?
Man muss unterscheiden zwischen Vertraulichkeit und Geheimhaltung. Vertraulichkeit muss möglich sein, etwa um die Privatsphäre zu schützen, oder einen vertrauensbildenden Raum für diplomatische Verhandlungen zu schaffen. Vertraulichkeit kreiert einen geschützten Rahmen, in dem die institutionelle Aufsicht jedoch weiterhin greift. Geheimhaltung hingegen entzieht Tatsachen der rechtsstaatlichen Kontrolle und schafft einen rechtsfreien Raum. Deals, die in dunklen Hinterzimmern geschlossen werden, sind stets zum Nachteil der Abwesenden, also der Öffentlichkeit.

Die Leiche im Keller des Westens

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Wikileaks-Gründer Julian Assange wird von den Mächtigen verfolgt und zugrundegerichtet. In seinem Buch liefert UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer erstmals Beweise.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

Transparenz herzustellen ist auch Aufgabe der Medien. Haben diese im Fall Assange versagt?
Absolut. Das beste Beispiel dafür ist die negative Voreingenommenheit, die ich anfänglich gegenüber Assange hatte – für mich war er ein Hacker, Vergewaltiger, Spion und Verräter. Diese Vorurteile hatte ich ja aus den Medien. Heute weiss ich, dass es für dieses Narrativ keinerlei Beweise gibt. 


Sie beklagen auch, dass es schwierig gewesen sei, Ihren Enthüllungen Gehör zu verschaffen.
Angesichts meiner geradezu skandalösen Entdeckungen dachte ich, die Medien würden sich sofort auf diese Geschichte stürzen und das wäre dann das Ende von Assanges Verfolgung. Mitnichten. Ein Live-Interview mit der grossen BBC wurde angesichts meiner unbequemen Aussagen direkt nach der Ausstrahlung vom Netz genommen und ist heute unauffindbar. Und das war kein Einzelfall.

«Die Crypto-Affäre ist ein Paradebeispiel dafür, dass die Gewaltenteilung dann, wenn es wirklich darauf ankommt, eben auch in der Schweiz nicht funktioniert.»

Nils Melzer, UN-Sonderberichterstatter über Folter

Folter gibt es weltweit. Weshalb exponieren Sie sich ausgerechnet mit dem Fall Assange?
Julian Assange ist gewissermassen die Leiche im Keller des selbstgerechten Westens. Mein Buch hält westeuropäischen Demokratien, die sich in Sachen Menschenrechte gerne als Vorbilder betrachten, einen unbequemen Spiegel vor. Assange hat Beweise für schwere, staatlich sanktionierte Verbrechen erbracht, von denen aber kein einziges verfolgt und bestraft wird. Wir sprechen immerhin von Folter und Massenmord. Statt der Verbrecher wird nun aber derjenige systematisch zugrunde gerichtet und mit 175 Jahren Gefängnis bedroht, der diese Verbrechen enthüllt hat. Und das mitten in Europa.


Assanges Verfolgung geht in erster Linie von den USA aus.
Die Regierung von Obama war ein «Gamechanger», was die Verfolgung von Whistleblowern angeht, allerdings im negativen Sinn. Wer mit drakonischer Nulltoleranz gegen Menschen vorgeht, die Missstände öffentlich machen, unterdrückt gezielt das gesellschaftliche Alarmsystem. Der rechtsfreie Raum beginnt zu wuchern. Wie man heute an den USA sehr deutlich sieht, kann das eine Gesellschaft rasend schnell zersetzen.


Hat Europa dem nichts entgegenzusetzen?
Wenn sich Europa gemeinsam als Gegengewicht positionieren und auf Werte wie Rechtsstaat und Menschenrechte beharren würde, vielleicht. Leider sind wir aber nicht anders.


Heisst das, ein Fall wie der von Julian Assange wäre auch in der Schweiz denkbar?
Durchaus. Ich muss auch in der Schweiz immer wieder intervenieren und treffe auch hier regelmässig auf massive Behördenkollusion. Schauen Sie sich die Crypto-Affäre mit den manipulierten Chiffriergeräten an. Die Amerikaner und die Deutschen haben jahrelang buchstäblich die halbe Welt belauscht. Als der Schweizer Nachrichtendienst davon Wind bekam, hat er diesen Missbrauch nicht etwa beendet, sondern sich mit ins Boot gesetzt.


Es ist unklar, ob der Bundesrat davon wusste.
Das ist natürlich eine Schutzbehauptung. Die Regierung hält sich bedeckt, die Justiz tut nichts und das Parlament hat es versäumt, eine Untersuchungskommission einzusetzen, weil eben niemand wirklich Interesse daran hat, dass zu viel Licht in diese Sache kommt. Die Crypto-Affäre ist ein Paradebeispiel dafür, dass die Gewaltenteilung dann, wenn es wirklich darauf ankommt, eben auch in der Schweiz nicht funktioniert. Darum ist es so wichtig, dass die Bevölkerung auf direktdemokratischem Weg Gesetzesvorlagen verhindern kann, welche den Behörden oder Unternehmen eine übermässige Machtkonzentration ermöglichen, so wie es bei der Einführung einer privatisierten elektronischen Identität gewesen wäre oder bei dem nun zur Abstimmung kommenden Gesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus.


Zurück zu Assange: Was wäre der bestmögliche Ausgang für ihn?
Die einzige richtige Lösung wäre, dass die USA ihre Anklage fallen lassen. Aber die Biden-Administration wird das kaum tun. Die involvierten Staaten haben Assange nicht zehn Jahre lang unter Aufwand von zig-fachen Millionenbeträgen verfolgt, nur um ihn jetzt laufen zu lassen. Wenn er jemals wieder freikommt, dann nur unter Bedingungen, die ihm die freie Berufsausübung verunmöglichen werden.


Donald Trump hätte Assange vor dem Ende seiner Amtszeit begnadigen können.
Soviel ich weiss, hatte er das auch vor und hatte Assange bereits auf die Liste gesetzt. Aber als er durch sein zweites Impeachment selbst unter Druck geriet, drängten ihn einflussreiche Kongressabgeordnete offenbar dazu, im Gegenzug für ihre Unterstützung im Impeachmentprozess darauf zu verzichten.


Woher wissen Sie das?
Ich habe meine Quellen.


Immerhin wurde Assanges Auslieferung vom britischen Gericht abgelehnt.
Das Gericht hat zuerst die Spionageanklage der USA als zulässig bestätigt und damit einen katastrophalen Präzedenzfall geschaffen, der den freien Journalismus kriminalisiert. Assanges Auslieferung wurde zwar aus medizinischen Gründen vorerst abgelehnt, doch ist das wohl eher ein taktisches Manöver, um die Fragen zu beschränken, welche im Berufungsprozess überhaupt geprüft werden können. 


Wie geht es nun weiter?
Wenn die USA Garantien zu ihren Haftbedingungen und zur medizinischen Behandlung abgeben, könnte die Auslieferung vom Berufungsgericht doch noch gutgeheissen werden. Alternativ kann man das Verfahren aber auch einfach mit Rechtsmitteln noch so lange in die Länge ziehen, bis Assange psychisch zerstört ist. Die USA haben es nicht eilig. Sie haben den gewünschten rechtlichen Präzedenzfall bekommen, und haben Assange da, wo sie ihn haben wollen – im Gefängnis.


Was heisst das für Assange?
Solange es ein Fünkchen Hoffnung gibt, können Menschen Unglaubliches ertragen. Mir gegenüber hat er aber sehr deutlich gemacht, dass er sich nicht lebend an die USA ausliefern lassen wird.


Denken Sie, die Enthüllungen in Ihrem Buch werden irgendwelche Konsequenzen haben?
Ich hoffe es. Wichtig wäre, dass die Öffentlichkeit aufmerksam wird, nicht nur auf den Fall Assange, aber auch auf die systemischen Missstände, welche durch diesen Fall so deutlich sichtbar werden und die uns alle ganz fundamental betreffen.

Warum Julian Assange geschützt werden muss

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Wikileaks-Gründer Julian Assange sitzt seit zehn Monaten in Auslieferungshaft. Sein Schicksal zeigt, wie versucht wird, Whistleblower zum Schweigen zu bringen.
Quelle: Beobachter Bewegtbild

Sehen Sie die Möglichkeit, Verantwortliche rechtlich zu belangen?
In erster Linie geht es natürlich um Staatenverantwortlichkeit für Menschenrechtsverletzungen. Vieles von dem, was ich beschreibe, sind aber auch schwere Straftaten wie Folter und Amtsmissbrauch. Die Verbrechen, die Assange aufgedeckt hat, müssen von Amtes wegen verfolgt werden, genauso wie diejenigen, die gegen ihn verübt worden sind. Wenn eine Behörde Hinweise auf solche Delikte hat und sie nicht verfolgt, macht sie sich zur Komplizin. Das sind keine Kavaliersdelikte, sondern eigenständige Straftaten.


Mit welchen Reaktionen rechnen Sie persönlich?
Die Fakten, die ich aufzeige, sind sehr unbequem. Ich gehe daher davon aus, dass man versuchen wird, mich zu diskreditieren, um eine sachliche Diskussion zu verhindern.


Bereitet Ihnen das Sorgen?
Nein, denn das einzige Ziel meines Buches ist die Wahrheit. Ich habe die mir zur Verfügung stehenden Beweismittel nach bestem Wissen und Gewissen ausgewertet und auf dieser Grundlage meine Schlussfolgerungen gezogen, so wie es mein Mandat vorsieht. Die betroffenen Staaten haben dazu trotz wiederholter Aufforderung nichts beigetragen. Dennoch bin ich jederzeit bereit, mir neue Argumente anzuhören und auch Korrekturen vorzunehmen, falls die Behörden die notwendigen Beweismittel doch noch präsentieren sollten. Damit rechne ich allerdings nicht, denn nach meiner Erfahrung hätten mir Staaten, die nichts zu verbergen haben, nicht zwei Jahre lang jede Kooperation verweigert.

Buchtipp

Buchcover Der Fall Julian Assange Geschichte einer Verfolgung

Nils Melzer: Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung.

Quelle: Piper Verlag
Zur Person

Der Schweizer Rechtswissenschaftler Nils Melzer, 51, ist seit 2016 UN-Sonderberichterstatter über Folter. Davor arbeitete er zwölf Jahre lang als Delegierter des Internationalen Roten Kreuzes. Melzer lehrt an der University of Glasgow und ist Autor mehrerer Bücher.

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