Nein zu sagen reiche nicht. Wegen Vergewaltigung könne ein Täter nur verurteilt werden, wenn ein Zwangsmittel nachgewiesen werde. Also Gewalt – physisch oder psychisch. Das kritisieren Fachstellen, Verbände, Strafrechtsexpertinnen und Politiker schon länger und verweisen auf fortschrittlichere Gesetze in anderen Ländern. Wie etwa in Deutschland oder Schweden.

Jetzt bewegt sich die Politik aber auch in der Schweiz. Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats hat Ende Januar Vorschläge für eine Revision des Sexualstrafrechts in die Vernehmlassung geschickt. Das Verfahren dauert bis im Mai. 

Vorgesehen ist unter anderem ein neuer Straftatbestand: der «sexuelle Übergriff». Darunter fallen der Beischlaf, beischlafähnliche Handlungen und andere sexuelle Handlungen. Wer so etwas gegen den Willen einer Person vornimmt, soll mit Geldbusse oder bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden können. Es soll ein Offizialdelikt sein, das heisst, die Behörden müssten von sich aus aktiv ermitteln. Bisher kennt die Schweiz die sexuelle Belästigung, sexuelle Nötigung und Vergewaltigung (Übersicht über die geltenden Straftatbestände)

Wieso der neue Vorschlag den Opfern nicht gerecht werde, erzählt Opferhilfe-Expertin Agota Lavoyer im Interview unten.

Beobachter: Was halten Sie vom neuen Gesetzesvorschlag?
Agota Lavoyer: Grundsätzlich finden wir es aus Opferhilfe-Sicht sehr begrüssenswert, dass das Parlament endlich bereit ist, das Sexualstrafrecht zu revidieren. Trotzdem muss ich sagen, dass dieser Vorschlag wirklich nur das absolute Minimum ist und ich enttäuscht bin. 


Wieso?
So, wie es jetzt ausformuliert ist, liegt der Fokus immer noch auf der Nötigung, das finde ich sehr störend. Der neue Tatbestand «sexueller Übergriff» erweckt den Anschein, als wäre eine Vergewaltigung ohne Zwang nicht «echt». Das ist verheerend, denn damit wird das grosse Leid, das jede Form von Vergewaltigung auslöst, verkannt. Man ignoriert, wie gravierend das schiere Übergehen des Willens im intimsten Bereich ist. Dieser neue Straftatbestand zementiert die vorherrschenden Stereotype und wertet Opfer ab, die ohne Zwang vergewaltigt werden. 


Mit Stereotypen meinen Sie, dass es für eine Vergewaltigung Gewalt braucht. 
Genau. Der Vergewaltigungsmythos vom fremden Täter in der dunklen Gasse, der das Opfer gewalttätig anfällt und zum Geschlechtsverkehr nötigt, ist immer noch sehr weit verbreitet. Und dass nur solche Taten «echte» Vergewaltigungen sind. Damit verkennt man die Realität. Denn es ist hinlänglich bekannt, dass viele Opfer bei sexueller Gewalt erstarren und es einfach über sich ergehen lassen. Die wenigsten können sich in dem Moment zur Wehr setzen. Dann fehlt das Nötigungselement, aber trotzdem musste das Opfer Geschlechtsverkehr gegen seinen Willen erleiden. Es braucht einen Paradigmenwechsel. Es muss endlich anerkannt werden, dass sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person in jedem Fall eine gravierende Straftat sind. Und zwar unabhängig davon, ob rohe körperliche Gewalt zum Einsatz kommt oder angedroht wird. Dieses Problem löst der neue Vorschlag nicht. 


Aber beim neuen Straftatbestand geht es doch genau darum, sexuelle Handlungen gegen den Willen des Opfers härter zu bestrafen. Erfüllt das nicht Ihre Forderung?
Jein. Natürlich ist es positiv, dass all das, was vorher allenfalls unter der Kategorie «sexuelle Belästigung» verfolgt werden konnte, ernster genommen und auch härter bestraft wird. Aber dennoch wird der «sexuelle Übergriff» immer noch als etwas weniger Schlimmes als eine Vergewaltigung kategorisiert. Nur weil es kein Nötigungselement drin hat. Und das Grundproblem bleibt bestehen: Ein Täter muss keine Gewalt anwenden, wenn ein Opfer sich nicht wehrt. Indirekt ist es also vom Wehrverhalten des Opfers abhängig, ob es sich um eine Vergewaltigung oder einen sexuellen Übergriff handelt. Wenn die Person es nicht wagt, sich zu wehren, oder überfordert ist mit der Situation, dann soll es eine weniger schlimme Straftat sein? Damit wird letztlich dem Opfer die Verantwortung dafür zugeschoben, wie die Straftat einzuordnen ist. Das ist sehr stossend.


Muss man denn Verbrechen, die mit Waffengewalt ausgeübt werden, nicht härter bestrafen als solche ohne? 
Es gibt selbstverständlich Faktoren, die eine Tat gravierender machen. Etwa wenn mehrere Täter involviert sind, ein starkes Abhängigkeitsverhältnis besteht oder massive Gewalt hinzukommt. Ich finde durchaus, dass es bei der Bestrafung der Täter angemessene Abstufungen geben soll. Dieser Unterschied wird auch heute schon gemacht. War eine Waffe involviert, wird härter bestraft. Man spricht dann von qualifizierter oder grausamer Tat. Aber wenn man Opfern sagt, dass das was sie als Vergewaltigung erlebt haben, keine ist, weil die Nötigung gefehlt hat, ignoriert man das Leid, das die Verletzung der sexuellen Integrität auslöst. Nötigung hin oder her. Rund 80 Prozent unserer Klientinnen erleben keine physische Gewalt – obwohl sie gegen ihren Willen anal, vaginal oder oral penetriert wurden. Sie wurden in ihrem intimsten Bereich zutiefst verletzt und tragen zum Teil enorme psychische und körperliche Folgen davon. Solche Straftaten müssen angemessen geahndet werden. 


Was fordern Sie von der Politik?
Der aktuelle Vorschlag wird dem nicht gerecht, was wir bei Opfern tagtäglich sehen. Wir fordern deshalb, dass die Definition von Vergewaltigung auf fehlender Zustimmung basiert, und nicht auf der Anwendung von Zwang. Alternativ müsste «sexueller Übergriff» mindestens als Verbrechen anerkannt werden, wie die Vergewaltigung. Im ständerätlichen Vorschlag ist nur von einem «Vergehen» die Rede. Und bei Vergehen ist das Strafmass milder. Wir sind da lediglich im Bereich von bedingter Haft und Geldstrafen, wie bei leichter Körperverletzung. Das ist einfach nicht genug für solch gravierende Taten. Das viel höhere Strafmass bei der Vergewaltigung impliziert, dass der grösste Teil des Unrechts auf die Nötigungshandlung entfällt. Das entspricht nicht dem, was die Opfer erleben.

Straftaten laut geltendem Gesetz
Vergewaltigung
Sexuelle Nötigung
Schändung
Sexuelle Belästigung

Zur Person

Agota Lavoyer

Agota Lavoyer ist stellvertretende Leiterin und Opferhilfe-Beraterin bei Lantana, der Fachstelle Opferhilfe für Kinder und Frauen bei sexueller Gewalt.

Quelle: Privat
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