20_99_staempfli.jpgBeobachter: Glaubt man den Umfragen, so wird die SVP bei den Nationalratswahlen im Oktober massiv zulegen. Was machen die anderen Parteien falsch?

Regula Stämpfli: Sie können sich thematisch weniger profilieren. Die FDP und die CVP bringen ihre Mitte-Position nicht richtig rüber. Der SP gelingt dies besser, deshalb wird auch sie zu den Gewinnerinnen gehören. Sie profiliert sich mit ihren Rezepten gegen die Arbeitslosigkeit und hat auch aussenpolitisch eine klare Position. Wie die SVP: Sie positionierte sich zunächst als Anti-Europa-Partei, hat jetzt aber auch wirtschaftspolitisch klar an Profil gewonnen. Die ehemalige Bauern- und Bürgerpartei wird für Akademiker, Gutsituierte und Wirtschaftsleute zunehmend attraktiver und nimmt damit der FDP ihre Wählerschaft weg.

Beobachter: Die SVP arbeitet mit Schlagworten und einfachen Rezepten. Ist das ihr Erfolgsrezept?

Stämpfli: Nein, nicht nur. Die SVP ist was ihren Aufbau betrifft eine sehr moderne Partei. Sie hat sich mit der Auns, der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz, einer gut verankerten Vereinsbewegung, einen Boden geschaffen, sodass sie von unten nach oben politisieren kann. Ihre Gegner unterschätzen die SVP, nennen sie autokratisch und altmodisch, doch das stimmt nicht.

Als Wahlmaschine ist die SVP unübertroffen. Sie organisiert ihre Mitglieder hervorragend und schöpft aus der traditionellen Politkiste das, was sie brauchen kann: die «Puure-Zmorge», die gesellschaftlichen Anlässe mit Politikern. Sie geht hin und hört zu. Das haben die anderen Parteien verpasst. Und die SP, die früher ihre Kraft aus der Bewegung gezogen hat, hat es mit dem Schwächerwerden der Umwelts-, der Friedens- und der Frauenbewegung verpasst, neue Schichten zu aktivieren.

Beobachter: Lassen sich die Leute in unserer individualisierten Gesellschaft überhaupt noch mobilisieren für politische Themen?

Stämpfli: Es ist schwieriger geworden, doch die SVP beweist ja, das es möglich ist. Auch die SP hätte grundsätzlich dieselbe Möglichkeit, nur müsste sie innovativer sein. SP-Wählerinnen und -Wähler gewinnt man nicht mit Trachten, Jodeln und «Züpfe-Essen». Politik muss heute Unterhaltungswert haben, und die SP verpasst es, den Unterhaltungswert mit dem Inhalt der Politik zu verbinden. Es ist verständlich, dass sich die anderen Parteien nicht auf das niedrige Niveau der SVP herablassen wollen, doch Ignorieren ist keine erfolgreiche Wahltaktik.

Beobachter: Immer mehr Menschen sind frustriert und enttäuscht von der Politik. Wie werden sie sich verhalten bei den Wahlen?

Stämpfli: Die SVP holt in einem gewissen Alterssegment die Enttäuschten ab, was den anderen Parteien weniger gut gelingt. Es gibt viele, die so frustriert sind, dass sie überhaupt nicht mehr an den Wahlen teilnehmen. Diese Abstinenz ist problematisch, denn statt ein Parlament zu wählen, das ihren Bedürfnissen entgegenkäme, äussern die Enttäuschten ihren politischen Willen nur noch bei Abstimmungen. So findet die Polarisierung nicht nur im Parlament, sondern auch bei den Abstimmungen statt, was dem Bundesrat das Regieren auch von dieser Seite her erschwert. Denn der Bundesrat ist keine Partei, sondern konsensorientiert. Diesen Unterschied dem Volk klarzumachen ist schwierig und kreiert weitere Frustrierte.

Beobachter: Was bedeutet das?

Stämpfli: Diese Wahlen sehe ich als Auftakt für eine ganz schwierige innen- und aussenpolitische Situation. Denn die Regierungsfähigkeit wird nicht grösser, wenn die Polarisierung nach rechts und links weiter zunimmt. Dann gibt es noch mehr Volksabstimmungen, da der Bundesrat keine sattelfeste Mehrheit mehr im Rücken hat, weil innerhalb der Regierung die Opposition hockt, von rechts und von links.

Beobachter: Die Polarisierung betrifft zudem nicht nur die Parteienlandschaft, sondern auch den Gegensatz zwischen Deutsch- und Welschschweiz.

Stämpfli: Ja, und davor habe ich Angst. Für mich ist der zu erwartende Rechtsrutsch der Mitte politisch unangenehm, doch das wirkliche Problem ist die Frage, wie man das Land zusammenhalten kann. Wie wird es regiert? Wie kann es, auch nach aussen, agieren? Die Wahl des Bundesrats durch ein total gespaltenes Parlament und eine direkte Demokratie, die das Wahlvolk auch noch spaltet das ist auf Dauer nicht gut für ein auf Konkordanz und Harmonie ausgerichtetes politisches System.

Beobachter: Wo sehen Sie einen Ausweg?

Stämpfli: In der Frage, ob man die Opposition in der Regierung will oder nicht. Es geht darum, dass sich FDP und CVP irgendwann festlegen müssen, welche Art von Politik sie betreiben wollen. Gleichzeitig bin ich skeptisch, was die Aufhebung der Konkordanz betrifft, weil ich nicht weiss, inwiefern sich SP, FDP und CVP oder auch FDP, CVP und SVP wirklich auf eine gemeinsame Politik einigen könnten. Sie müssten sie dann auch konsequent durchsetzen, als breite Regierungskoalition. Wenn man jetzt sieht, wie jede Partei einen eigenen Wahlkampf führt und sich gegen alle anderen abgrenzt, sieht dies für mögliche Koalitionen nicht gut aus.

Beobachter: Könnte man denn so schnell zu einem Mehrheit-Opposition-System wechseln, ohne die Verfassung zu ändern?

Stämpfli: Ja klar. Die Schweiz ist nicht mit der Zauberformel geboren. Bei ihrer Einführung widerspiegelte sie die gültigen Mehrheitsverhältnisse. Nach diesen Wahlen muss das aber nicht mehr so sein. Das Parlament sollte sich eine Regierung zusammenstellen, die nachher auch ein echtes Regieren ermöglicht. Denn wir können es uns nicht leisten, bei den grundlegenden Fragen, bei wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheiden, wieder zu scheitern.

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