Röstigraben: Das tägliche Erfahren der Sprachbarriere
Am 4. März stimmen wir über die Initiative «Ja zu Europa» ab. Die Romandie dürfte einmal mehr überstimmt werden. Existiert der Röstigraben also wirklich? Wie erlebt ihn eine Firma, die im Aargau und im Kanton Waadt einen Sitz hat?
Veröffentlicht am 18. Januar 2001 - 00:00 Uhr
«Einsam? Nein.» Der 18 Tonnen schwere Mercedes rollt ruhig über die A1. Dieter Stempfel (Bild) fixiert den Rückspiegel. «Einsam würde ich mich fühlen, wenn niemand da wäre», sagt er. «Hier fahren doch eine Menge Leute.» Nach einer Pause: «Okay. Man hat nichts mit ihnen zu tun.»
Dieter Stempfel, 38, Vater von drei Kindern, ist Chauffeur bei der Baumgartner SA respektive Baumgartner AG. Die Papiergrosshändlerin verfügt über zwei Verteilzentren. Das eine befindet sich in Crissier VD, das andere in Brunegg AG.
Heute hat Stempfel Spezialdienst. Allabendlich werden zwecks Lagerabgleichung von beiden Seiten zwei Camions zum andern Vertrieb losgeschickt. Das verkürzt die Lieferzeiten. Auf halbem Weg tauschen die Chauffeure ihre Fahrzeuge und fahren mit der neuen Fracht dahin zurück, wo sie herkamen. Bilateral an den Rand des Röstigrabens sozusagen, «aller et retour». Stempfel hat heute 7,2 Tonnen Papier geladen. Es ist 18.16 Uhr, und die Dampfwolke von Gösgen hängt schwer am abendlichen Himmel.
Das Gelände der Baumgartner SA in Crissier erstreckt sich über 80000 Quadratmeter. Von den 280 Angestellten sind 180 im Papierhandel tätig. Das Kader von Crissier, dem Hauptsitz, besteht mehrheitlich aus Deutschschweizern. Wie kommt das? «Ich weiss es nicht», sagt Jean Gyger, Verkaufschef Lager. «Das ist doch okay, non?» Er führt durch den Flur des Hauses. «Offene Türen bedeuten: Die Leute sind hier.» Sein Büro hat die Nummer 505.
Seit 27 Jahren ist er in der Firma tätig. Sein Arbeitsraum gibt den Blick frei auf das Betriebsgelände; an der Wand hängt ein Kupferstich, betitelt mit «Bruneck». Es gibt Leute, die Jean Gyger mit «Monsieur Schiiger» ansprechen. Dann korrigiert er jeweils. Er heisse Gyger, mit einem scharfen G, nicht «Schiiger». Das habe ihn übrigens auch beim Europaunterhändler so genervt. Diesen Herrn Kellenberger habe man im Westschweizer Fernsehen immer «Monsieur Kellenberschee» geheissen. «C’est idiot. Wir sind verschieden. Es hat keinen Sinn, das zu leugnen.»
Dann, sehr ernst: Er schätze seine Kollegen in der Deutschschweiz. Grundsätzlich gebe es da keine Schwierigkeiten. Täglich telefoniert Gyger mehrmals mit Brunegg. Nur: Schwierig sei es bisweilen, neue Ideen zu kommunizieren. Die Deutschschweizer gingen immer so ins Detail. Bevor eine Sache ausgereift sei, habe man in der Deutschschweiz gar keine Chance.
«Das verstehe ich nicht. Da kommen mir die manchmal wie"têtes carrées" vor – Quadratschädel halt. Vous comprenez?» Er lacht, führt mit den Händen zwei eckige Linien um seinen Kopf. Das sei wohl
in jedem vergleichbaren Betrieb so. «On est différent.» Verschieden worin? «Wir sind ein bisschen Franzosen. Wir reklamieren dauernd. Doch wir amüsieren uns.» Pause. «Mit dem Unterschied, dass wir Romands uns ein bisschen weniger amüsieren. Wir haben schliesslich die Deutschschweizer im Rücken.»
Jeder spricht seine Muttersprache
Auf dem Weg nach Brunegg läuft Gygers Autoradio, und kurz nach Fribourg wechseln die Frequenzen. Dann wird Schweizerdeutsch gesprochen. Natürlich hört Gyger weiter, «aber ich höre nicht mehr zu». An der Kadersitzung, da wie dort, spricht jeder seine Muttersprache. Ob alle immer alles verstehen, weiss Jean Gyger nicht. Seine Bilanz: «Wer aufmerksam bleibt, hat keine Probleme.»
«La Romandie, on l’aime» – man liebt die Romandie. Liebt man auch die Romands? «Das weiss ich nicht», sagt Jean Gyger. Er spricht ja für den anderen Teil. «Angenommen, an einer Sitzung würde gefragt:"Wer von Crissier möchte in Brunegg arbeiten?", wäre die Antwort sonnenklar: Schweigen.» Gyger zuckt die Achseln.
Laut herkömmlicher Meinung verläuft der Röstigraben im Norden durch den Jura nach Biel, passiert das Seeland über Murten FR nach Fribourg, gelangt zum Oldenhorn, zur Kette der Berner Alpen, zum Pfynwald. Historiker schätzen das Alter dieses Grabens auf 1600 Jahre. Denn im Zug der Völkerwanderung trennten sich die Wege – westgermanische Alemannen hier, ostgermanische Burgunder dort.
Andere Grabenforscher sehen die Lage anders. Bieler Froschmänner haben kürzlich steinzeitliche Ufersiedlungen entdeckt. Die dank Luftabschluss erhaltenen Samen, Früchte und Schmuckstücke deuten darauf hin, dass sich just dort die Grenze zweier Kulturen befindet – ein Röstigraben, der sagenhafte 6000 Jahre alt wäre.
Auch eine weitere These hat einiges für sich. Ein Volkskundler stellt sich nämlich auf den Standpunkt, dass die eigentliche Kulturgrenze beim Brünig beginne und durch das Napfgebiet zum untersten Reuss- und Aarelauf gelange. Man müsse von einer Brünig-Napf-Barriere sprechen. Einen «Röstigraben» gebe es nicht.
Dieter Stempfel, der Chauffeur, isst lieber Fondue als Rösti, lieber Gänseleber als Birchermüesli, und früher ging er mit seiner Frau noch öfter gut essen. Heute liege das nicht mehr drin. Er besitzt im Aargauer Seetal ein Häuschen.
Es ist 18.45 Uhr. Ein Stern leuchtet am Himmel. Noch 113 Kilometer bis zum Röstigraben. Am Anfang, nach der Prüfung, habe er an grossen, schweren Wagen viel mehr Spass gehabt. Mit der Zeit spüre man aber die Verantwortung. Er fährt heute «eigentlich immer Mercedes»; die haben luftgefederte Sitze und ruhige Motoren. Zwischen Grauholz BE und Deitingen SO sei die Strecke etwas langweilig. Im Wageninnern baumelt ein Duftbäumchen.
Bei der Baumgartner AG in Brunegg befinden sich zwei Sitzungszimmer. Das eine, dem Empfang näher, ist französisch mit «Argovie» angeschrieben; an der Tür des zweiten, zwölf Meter weiter, neben dem Hintereingang, steht «Waadt». «Wir haben da ein kleines Wortspiel gemacht», sagt Roger Grosswiler. Die Fingerspitzen seiner Hände tippen gegeneinander.
Die Romands sind geselliger
Grosswiler ist zuständig für den Support in Informatik und Telekommunikation. «Ich bin kein Sozialpsychologe», sagt er. Die Situation sei klar. Spezifisch deutsch-welsche Probleme gebe es für ihn nicht. Vielleicht gelinge es ihm, sich anzupassen. Vielleicht passten sich eben die anderen an. Und vielleicht müsste man sich eigentlich gar nicht anpassen. Vielleicht sei dies das Problem? Roger Grosswiler hüstelt, runzelt die Stirn. «Was sind Ihre Fragen?»
Das Gespräch findet im Sitzungsraum «Waadt» statt. Die Bürotüren in Brunegg sind grösstenteils geschlossen. Grosswiler ist «etwas in Eile».
In Zukunft wird er öfter in Crissier sein. Dies bedeutet vier Stunden Fahrt hin und zurück, «Staus mitgerechnet». Ja, die Distanz zwischen den Betrieben sei schon ein Problem. Doch liebe er es, noch am selben Abend zurückzukommen. Die Romands seien halt geselliger, die träfen sich oft auch nach der Arbeit. «Die halten mehr zusammen als wir. Man sucht hier eher die eigenen vier Wände.» Grosswiler wird leise. «Wenn ich ehrlich bin, ists dort ja auch am schönsten.»
Er muss zugestehen, es sei etwas ande-res, zu telefonieren, als am selben Tisch zu sitzen. Aber auch hier gebe es Techniken. Grosswiler betont, dass er sich ausnahmslos nach dem Befinden der Gesprächspartner erkundige, «nach dem Nebenbereich, konkret: Wie goots?». Menschen seien immer mehr als ihre Funktionen. Früher oder später hat Grosswiler noch jedem Mitarbeiter in Crissier die Hand gedrückt.
Ja, vielleicht seien die Deutschschweizer eher «Chrampfer, Elebögler und Pedanten». Das merke er an sich selber. Manchmal müsse er darauf bestehen, dass die Daten wirklich so übermittelt würden, wie er sie verlangt habe. Einmal sei ein Transportanhänger viel zu spät zurückgekommen. Und die Reparatur des Hauptrechners in Crissier habe geschlagene sechs Stunden in Anspruch genommen: «Manchmal vermisse ich etwas Druck da unten.»
Aber eben: Spezifisch welsch-deutsche Probleme gebe es nicht. «Jeder leistet seinen Einsatz, ist doch klar.» Das einzige Problem sei halt, «wenn man das Problem des andern nicht versteht».
Mit 16 fütterte die Stadtzürcherin Catherine Frei Hühner und Schweine in Moudon VD. Sie absolvierte ihr obligatorisches Haushaltlehrjahr im Welschland. Sie war «todtraurig», als sie zurückkehren musste – und nicht, weil sie die meisten Schulkolleginnen verloren hatte. «Ich wusste, dass ich eines Tages wieder hierher kommen werde. Die Zeit hatte mich verändert.»
Catherine Frei sitzt heute im Büro 512 in Crissier. Sie besorgt den Zentraleinkauf für beide Lager, zirka 4000 Papierartikel; sie hat Kontakt mit 50 verschiedenen Lieferanten aus Deutschland, den USA und der Schweiz. Eine Deutschschweizerin im Exil, die sich heute als «120-prozentige Romande» bezeichnet. Die «Tagesschau» sieht sie sich schon lange nicht mehr an, ebenso wenig Deutschschweizer Zeitungen. Was sie an diesem Landesteil so faszinierend findet? Sie schnippt mit den Fingern, lächelt, weiss es nicht.
Deutschschweizer passen sich an
«69, l’année erotique…» Das Chanson von Jane Birkin treffe viel in ihrem Leben. 1969 nämlich heiratete sie einen Romand, zügelte in die Westschweiz und brachte ihre erste Tochter zur Welt. Ja, gewisse Anpassungsschwierigkeiten habe es schon gegeben, gewisse «subtilités de la langue française» habe sie eben nicht verstanden, und genau dies habe man ihr auch oft zu verstehen gegeben – «was solls».
Seit 30 Jahren lebt sie nun in der Nähe von Lausanne. Bei einer Kadersitzung, hält ein Kollege fest, sei sie die Einzige gewesen, die ihre Präsentation in Französisch gehalten habe. In ihrem Pass steht zwar noch Katharine. Und in wichtigen Dingen unterschreibt sie weiterhin: «K. Frei». Sie sei hier aber schnell als Catherine aufgenommen worden. Vielleicht liegt das daran, dass sie «etwas unkomplizierter» sei als andere Deutschschweizerinnen.
Nein, akzentfrei habe sie nicht sprechen gelernt. Es gebe auch Leute, die ihr dies regelmässig unter die Nase reiben und
sie mit «Booschuur» begrüssen würden. «Das finden die halt"extrêmement" lustig,
n’est-ce pas? Aber eine andere Sprache können die selber nicht.»
Manchmal besucht Catherine Frei ihre Tochter in Winterthur. Es freut sie, in den Boutiquen für eine Französin gehalten zu werden. «Es ist schon herzig, wie sich die Deutschschweizer uns anpassen.»
18.55 Uhr. Noch 60 Kilometer bis zum Röstigraben. Die Landschaft ist eingedunkelt, Baumkronen flitzen an den Seitenfenstern vorbei. Dieter Stempfel ist vergnügt. «Mit meinem Französisch haperts, ich kann grad das Nötigste: Essen und Trinken bestellen. Notfalls. Aber selbst das brauche ich nicht», sagt er. «Weil ich praktisch nie in der Romandie bin.» Ferien machen die Stempfels immer in Griechenland. «Truurig, wies isch, muss ich sagen, ich habe keine Beziehung zur Romandie.» Seine Freunde leben im Aargau.
Der Ausdruck «walhisc» (welsch) bezeichnete ursprünglich einmal die Angehörigen des Keltenstamms der Volcae. Nach der Besetzung der keltischen Gebiete durch die Römer ging die Bezeichnung
auf die dortige romanische Bevölkerung über. Ein französisches Wörterbuch erklärt heute zum Stichwort: «Übername, welchen die Deutschschweizer den Romands geben, in der Regel ohne abwertenden Unterton. Die Romands benutzen das Wort spasseshalber.»
Vor einigen Jahren verabschiedete die Verständigungskommission des National- und des Ständerats 23 Empfehlungen zur besseren Verständigung unter den Sprachregionen. Was aus diesen Anregungen geworden ist, weiss niemand. Bis heute wird ein Grossteil der Dossiers im Bundeshaus nur in deutscher Sprache verfasst.
Im Hôtel-Restaurant Le Parc in Ecublens-Lausanne sitzt Marc-Antoine Busigny, 30, Chef de projets der Baumgartner Papiers. Er erweitert seinen «schwizerdütschen» Wortschatz: Sein Trainer spricht Mundart, Busigny spricht Hochdeutsch und hört genau hin.
Es gibt Weissbrot, Rotwein, Bündnerfleisch, Silberzwiebeln. Und Konversation: «Stöörts Si, wänn i rauche?», fragt der Trainer. «Stört es Sie, wenn ich nicht rauche?», fragt Marc-Antoine Busigny. «Überhaupt nöd», sagt der Trainer. Beide müssen lachen.
Busigny soll in Crissier und Brunegg eine neue Software implementieren. Die Arbeitsprozesse sind beiderorts dieselben. Die Software soll den Bedürfnissen beider Standorte angepasst werden. Diese sind nicht immer dieselben. Eine einzige Projektsprache würde alles vereinfachen – aber Englisch können hier wie dort nur wenige. So sucht man nach zwei Lösungen, die doch nur eine einzige ist. Einmal in Deutsch, einmal auf Französisch.
Sitzungen werden doppelt geführt
«Anfänglich versuchten wir, an einer gemeinsamen Sitzung die Lösungsvorschläge von Crissier und Brunegg abzugleichen», sagt Busigny. «Doch von den Brunegger Projektverantwortlichen versteht fast niemand Französisch. Deshalb müssen wir die Sitzung jetzt doppelt durchführen.»
Mit folgendem Ablauf: Der Lösungsvorschlag des Key-Users von Crissier wird via Busigny in Brunegg vorgetragen. Möglicherweise wird dieser dort ergänzt. Dann wird die Arbeit in Crissier fortgesetzt. «Der Erfahrungsaustausch ist wesentlich», sagt Busigny. «Die Lösungen müssen beiden Seiten auf den Leib geschrieben sein.» Nicht immer lasse sich die eine Seite von der andern helfen. Doch gehöre es zu seinen Aufgaben, die Zusammenarbeit zu fördern. «Ich verstehe mich als Animator.»
Am meisten Mühe in der Deutschschweiz machen ihm die Speisekarten: «Ihr habt so viele Namen für dieselben Dinge. Hüendli! Güggeli! Poulet! Und dann noch das Chöörbli, oder wie?» Technische Dinge sind für Busigny «ganz klar der einfachere Diskussionsstoff». Beim Essen hüpfe man von einem Thema zum andern. «Und all die Witze verstehe ich sowieso nicht.»
19.15 Uhr. Ausfahrt Flamatt Laupen FR. Es ist Nacht. Dieter Stempfel weiss nicht, wer heute der Chauffeur ist, dem er seinen Wagen übergeben wird. Aber dessen Fahrzeug steht schon da. Stempfel parkiert, stellt den Motor ab, packt Essen, Tachoscheibe, Handy und Fahrausweis in seinen Beutel, steigt aus dem Wagen. Die Chauffeure drücken sich die Hand. «Bonjour! Ça va?» – «Wie verruckt!» Stempfel lacht.
Schon sind sie aneinander vorbeigegangen. Der Chauffeur aus der Romandie erkundigt sich noch nach dem Ladegewicht, Stempfel zeigt auf den Routenplan, und nach drei Minuten springen die beiden Motoren an. Die Wagen fahren in verschiedene Richtungen davon.