Beobachter: Sie haben in einer interdisziplinären Arbeitsgruppe ein «Manifest für eine faire Mittelverteilung im Gesundheitswesen» verfasst. Was bedeutet für Sie Rationierung im Gesundheitssektor?

Ruth Baumann-Hölzle: Bei einer Rationierung geht es immer um eine Verteilung von knappen Mitteln. Wir sind tätig geworden, weil im Rahmen der Rationalisierung im Gesundheitswesen eine verdeckte Rationierung stattfindet: nämlich eine kriterienlose Rationierung im Einzelfall am Krankenbett. Es geht uns darum, dies möglichst zu vermeiden. Das setzt voraus, dass man aber endlich die generelle Rationierung im Sinne einer Prioritätensetzung an die Hand nimmt.

Beobachter: Rationierung ist doch ein Begriff aus der Kriegswirtschaft und bedeutet, knappe Güter gerecht zu verteilen. Im Gesundheitswesen ist jedoch nicht das Angebot knapp geworden, sondern das Geld. Folglich geht es um Kosten-Nutzen-Überlegungen, um das Shareholder-value-Prinzip.


Baumann-Hölzle: Genau dagegen wollen wir Einspruch erheben. Wir lehnen Kosten-Nutzen-Rechnungen am Krankenbett ab und sind dagegen, dass man beispielsweise aufgrund von Alterslimiten oder sozialen Kriterien Mittel zuteilt. Die Solidarität der Gesunden mit den Kranken darf nicht in Frage gestellt werden.

Beobachter: Allerdings gibt es Leute, die es für ökonomisch sinnlos halten, teuerste Spitzenmedizin auf Kosten der Allgemeinheit in Todgeweihte zu investieren...


Baumann-Hölzle: Dagegen muss man klar Stellung beziehen. Allerdings findet in vielen Fällen auch eine Übertherapie statt. Wir orientieren uns immer noch an einer Maximal- statt an einer Optimaltherapie. Es werden teilweise Mittel eingesetzt, die nicht angemessen sind und nicht einmal einen Wirksamkeitsnachweis besitzen. Das Zurückfahren von der Maximaltherapie zur Optimaltherapie läge auch im Interesse des Patienten, vor allem in der letzten Lebensphase. Es ist bedauerlich, dass erst jetzt unter dem finanziellen Druck über das Unterlassen von Massnahmen diskutiert wird - was eigentlich schon aus medizinisch-ethischer Sicht angezeigt wäre.

Beobachter: Der Rationierungsgedanke unterscheidet sich fundamental von der Sterbehilfe. Bei der Sterbehilfe liegt ein dringender Wunsch des Patienten vor, auf lebensverlängernde Massnahmen verzichten zu wollen. Rationierung hingegen hat nichts mit dem Willen des Patienten zu tun. Wird hier nicht die Grenze zum Gedankengut der Euthanasie überschritten?


Baumann-Hölzle: Die Freiheit, welche Mittel bei einem einzelnen Menschen eingesetzt werden, soll möglichst gross bleiben und geschützt werden von allgemeinen Überlegungen. Doch je länger wir uns davor verschliessen, eine strukturelle Prioritätensetzung im Gesundheitswesen an die Hand zu nehmen, desto eher kommt es zu solchen Rationierungen im Einzelfall. Strukturelle Rationierung heisst etwa: Beschränkung der Ärztedichte, der Verflechtung von Industrie und Leistungsanbietern sowie eine restriktivere Handhabung der Medikamentenliste. Alle Akteure im Gesundheitswesen müssen Haare lassen. Das betrifft auch uns: Wir Gesunden können nicht mehr erwarten, dass wir auch Lifestyle-Medikamente wie Xenical bezahlt bekommen.

Beobachter: Allein schon die öffentliche Diskussion über dieses Thema erhöht doch den Druck auf alte, behinderte und schwerstkranke Menschen. Sie fühlen sich als Kostenfaktoren ausgegrenzt. Dasselbe gilt auch für werdende Eltern, die vor der Frage stehen, ob sie ein behindertes Kind zur Welt bringen sollen oder nicht.


Baumann-Hölzle: Es ist unser Hauptanliegen, diese Diskussion genau so nicht zu führen. Am schwächsten Punkt, beim Patienten, darf nicht angesetzt werden. Der Druck auf den Patienten entsteht aber genau dann, wenn wir nichts unternehmen. Um den Solidaritätsgedanken zu bewahren, braucht es klare politische Richtlinien. Auch unangenehme Entscheide sind denkbar: Warum nicht eine Verbrauchssteuer für Extremsportarten oder einen Solidaritätsbeitrag der Raucher einführen?

Beobachter: Auch der gesunde Mensch gerät also unter Druck: Die Gesellschaft erwartet von ihm, dass er gesund bleibt und sich gesund verhält. Führt das nicht in eine faschistoide Zukunft, in der alles verboten ist, was Spass macht, vielleicht aber nicht ganz so gesund ist?


Baumann-Hölzle: Ich trete klar dafür ein, dass ein Kranker Solidarität braucht - unabhängig davon, weshalb er krank wurde. Nehmen wir zum Beispiel die Fettleibigkeit. Wenn man sagt, die Betroffenen hätten keine Schuld an ihrem Übergewicht, dann müssten wir doch allen das Medikament Xenical geben. Dabei gäbe es durchaus Verhaltensmöglichkeiten, Übergewicht zu vermeiden. Eine Krankheit darf nie zur Schuld werden, aber der Gesunde hat eine Verantwortung, gesund zu bleiben. Das ist natürlich eine Gratwanderung - und selbst in unserer Arbeitsgruppe waren genau bei diesem Punkt die Meinungen sehr geteilt.