Sie klebt so locker in der überhängenden Wand, als wären alle Gesetze der Schwerkraft aufgehoben. Dann tänzelt die «Spinnenfrau» akrobatisch weiter, von Griff zu Griff und in raschem Tempo, um nicht zu viel Kraft zu verlieren. Oben angekommen, mitten im 13 Meter hohen Hallendach, hängt Evelyne Binsack das Seil in den letzten Karabinerhaken ein; dann strahlt sie, lässt sich am giftgrünen Spinnfaden abseilen und dankt wie immer ihrem Kletterpartner, der sie gesichert hat.

Wir treffen die weltbekannte Alpinistin in der Kletterhalle «Pilatus Indoor» im Industriegebiet von Root LU. Mit dem stolzen Berg, welcher der Halle den Namen gegeben hat, hat das Kletterzentrum nicht gerade viel gemeinsam. Statt einer unberechenbaren, Hunderte Meter hohen Felswand klettert man hier aalglatte Holzplatten mit farbigen Kunststoffgriffen hoch. Doch die Vorteile liegen auf der Hand: In der Halle lässt es sich das ganze Jahr über trainieren, die Risiken sind minim, und zwischen den Routen gibts einen leckeren Cappuccino.

Schüler kraxeln neben Stars

Die Halle ist an diesem Freitagnachmittag gut besucht. Ambitionierte Kletterer trainieren neben Anfängern, ein Instruktor führt eine Schulklasse in den Sport ein. Auch die Elite lässt sich blicken: Gleich vier weitere international bekannte Bergsteiger sind neben Evelyne Binsack anwesend – Ueli Steck, Robert Bösch, Ueli Bühler und Rolf Zemp, Binsacks Kletterpartner.

Evelyne Binsack aber hängt bereits in der nächsten Route. Immer scheint sie genau zu wissen, wie sie sich drehen und wenden muss. Manchmal hält sie kurz inne, entlastet den einen Arm oder pudert die schweissnasse Hand mit Magnesium ein, dann gibt sie sich einen Ruck und nimmt die nächste Stelle in Angriff. Wieder unten, findet sie doch noch etwas Zeit, die Kletterhalle zu bewerten. «Hier findet jede und jeder eine geeignete Route», ist sie überzeugt. Wer ohne Seil üben möchte, könne zudem an einer grossen Boulderwand herumkraxeln. «Schade ist hingegen, dass es keine Strukturwände gibt.» Das sind Kletterwände, die wie im echten Fels zahlreiche kleine Löcher und Kanten aufweisen; so kann der geübte Kletterer die aufgeschraubten Griffe auch einmal auslassen und sich seine eigene Route suchen. Schon klettert die Athletin wieder los. «Ich will am Abend müde sein!», ruft sie aus zehn Metern Höhe herunter. Und fügt lachend hinzu, schon als Kind habe sie nicht stillsitzen können. Das war in der Schule wohl weniger erwünscht, hatte aber später einen hohen Trainingseffekt. «Anderen kommt ihre Hyperaktivität vielleicht in die Quere, mir kommt sie gerade recht», scherzt die Nimmermüde. Noch heute sei ein Tag ohne Ski- oder Klettertour für sie kaum auszuhalten: «Meine Beine wollen einfach los!»

Klettern ist Vertrauenssache

Wir wollen nun auch los, und zwar in die nächste Kletterhalle, in jene von Eiselin-Sport in Luzern. Der Eingang: eine unscheinbare Türe in einer Tiefgarage. Der Raum ist hoch, aber eng, die Luft stickig. Für eine Bar oder einen Boulderbereich fehlt der Platz. Dafür laden mehrere Strukturwände zum Kraxeln ein. Evelyne Binsacks Eindruck: «Diese Halle ist eher für Anfänger geeignet, weniger für Profis.» Wer in Luzern wohne und abends noch etwas Sport treiben wolle, der schätze aber das Angebot sicherlich.

Eine Wand lässt sich per Motor nach hinten oder vorne neigen. Binsack will sie möglichst überhängend haben, bevor sie losklettert. «Gib em nachli!», ruft sie, als der Hallenwart die Wand in Bewegung setzt. Während des Abseilens wird dann ein Sicherheitsproblem sichtbar: Bei einem Sturz aus grosser Höhe kann man mit etwas Pech auf das Geländer des Balkons fallen.

Apropos Sicherheit: Gefährliche Situationen ergeben sich in den Schweizer Kletterhallen zwar fast jede Woche, doch gravierende oder gar tödliche Unfälle sind selten. Gemäss der Bergsportstatistik des Schweizer Alpen-Clubs (SAC) ereignet sich jeder fünfte Kletterunfall in einer Halle, die übrigen draussen am Fels. Trotzdem gilt auch in der Halle: Wer klettert, muss seinem sichernden Partner hundertprozentig vertrauen können.

Einzige Frau unter Bergsteigern

Tags darauf besuchen wir Evelyne Binsacks Stammlokal – die kleine, aber feine Kletterhalle in Meiringen. Die Extremsportlerin trainiert im Winter häufig hier. Die Atmosphäre ist familiär: Man kennt sich – oder man lernt sich kennen. Auch hier kann eine der strukturierten Kletterwände je nach Gusto geneigt werden. Ein elfjähriger Junge klettert unermüdlich Route für Route hoch. Sein Vater sichert ihn, gibt ab und zu Tipps. «Wer Profi-Kletterer werden möchte, beginnt am besten früh», ist Evelyne Binsack überzeugt. «Viele gute Kletterer gingen schon als Kind mit ihrem Vater auf Tour.» Die nächste Station ist dann oft die Jugendorganisation des SAC.

Es geht freilich auch anders. Evelyne Binsack selber kam erst mit 17 Jahren auf den Geschmack, vorher war sie Leichtathletin. Ein Jahr später war sie bereits so gut, dass sie mit Profi-Alpinisten auf Ski- und Klettertouren ging. Rolf Zemp, der schon damals dabei war, erinnert sich gut: «Bergsteigen war ein reiner Männersport. Doch Evelyne haben wir als einzige Frau immer mitgenommen.» Als 27-Jährige durchstieg sie dann die Nordostwand des Eigers solo, und sieben Jahre später stand sie als erste Schweizerin auf dem Mount Everest. Vorläufiger Höhepunkt ihrer Karriere: ihre Expedition «Antarctica», eine 16-monatige Velo- und Trekking-Tour von Meiringen bis an den Südpol. Es wäre um ein Haar ihr letztes Abenteuer geworden. Binsack war am Schluss bis auf die Knochen ausgezehrt.

Mit solchen Erlebnissen hat das trendige Sportklettern allerdings nicht viel zu tun. «Heute machen viele Kletterer ihre ersten Erfahrungen in der Halle und nicht mehr am Fels», sagt Binsack. «Und wenn sie mal draussen klettern, dann in gut abgesicherten Klettergärten.» Doch das sei ein komplett anderer Sport als der, den sie als Alpinistin treibe. Doch Binsack will nicht falsch verstanden werden: «Sportklettern ist eine gute Sache. Man lernt Herausforderungen zu meistern, trifft sich mit Gleichgesinnten und trainiert jeden Muskel seines Körpers.»

Kletterer geben nie auf

Für eine letzte Halle bleibt noch Zeit. Der Weg dorthin: ein Spiessrutenlauf. Wir parken nahe dem Zentrum von Interlaken, kämpfen uns mit Sack und Pack durch Touristen, Markt und Baustellen – und stehen dann endlich vor einer unscheinbaren Tür. Innen eröffnet sich eine andere Welt, keine Spur von Hektik.

Die Halle besteht auch hier aus einem einzigen Raum mit hohen Kletterwänden. 70 Routen und eine kleine Boulderwand stehen zur Wahl. An der «Mini-Bar» sitzen einige Profis und debattieren über die finanzielle Zukunft der Halle. Weil die echten Berge nah sind und in der Umgebung immer mehr Hallen eröffnet werden, rentiert sie nicht mehr. Doch wo Idealismus im Spiel ist, wird es immer einen Weg geben. Kletterer sind es schliesslich gewohnt, bei Schwierigkeiten nicht gleich aufzugeben. Damit haben die Anfänger, die sich über uns an den steilen Wänden abmühen, indessen noch Probleme: Immer wieder geraten sie ins Stocken - mal sind die Arme zu kurz, ein andermal stehen sie auf dem falschen Fuss. Doch wenn sie mit ihren aufgepumpten Unterarmen endlich oben sind, steht ihnen das Glück ins Gesicht geschrieben.

«Klettern macht Spass, egal in welchem Schwierigkeitsgrad», sagt Evelyne Binsack. Dann gesteht sie fröhlich: «Jetzt bin i aber gchnüttlet!» Auch Lachen und Reden brauchen Kraft, und tags darauf will die Alpinistin frühmorgens auf Skitour gehen – oder auch auf deren zwei.

Sportklettern ist nicht zuletzt wegen der vielen Kletterhallen eine beliebte Trendsportart geworden. Schätzungsweise 150'000 Menschen klettern in der Schweiz regelmässig. Anfängern rät Evelyne Binsack, einen Kurs zu besuchen, denn das Sichern will gelernt sein. Kurse bieten die Betreiber von Kletterhallen, der Schweizer Alpen-Club (SAC) und Bergsport- und Kletterschulen an.

Kinder sind in vielen Hallen in Begleitung ihrer Eltern zugelassen, in einigen Hallen gibt es sogar spezielle Kinderwände (siehe Tabelle unten).

Das Klettermaterial kann in den meisten Hallen ausgeliehen werden.

Quelle: Gerry Nitsch

Die 20 grössten Kletterhallen der Schweiz (PDF, 57 kb)