Beobachter: Raser sind jung, männlich und aus dem Balkan. Stimmt das?
Jacqueline Bächli-Biétry: Sie sind jung, männlich und aus der Unterschicht. Dort haben die Jungen schlechte Perspektiven, und es herrscht eine Machokultur. Das ist bei Schweizern oder bei Leuten aus dem Balkan ähnlich. Schweizer Eltern fällt es aber kaum ein, ihren Jungen ein starkes Auto zu finanzieren. Deshalb ist es tatsächlich so: Die Hälfte der Raser, die wir Verkehrspsychologen beurteilen, stammt aus dem Balkan sowie aus Spanien, Portugal oder der Türkei. Diese Jungen haben Integrations- und Selbstwertprobleme, sie brauchen das Auto zur Selbstdefinition.

Beobachter: Es sind immer Männer...
Bächli-Biétry: Ja, ich hatte in den letzten zehn Jahren 600 Männer und eine Frau in meiner Praxis. Ich beurteile Wiederholungstäter - Leute, die schon mehrere Male im Verkehr krass aufgefallen sind. Frauen lernen etwas aus Strafen, bei Männern geht es immer darum, auf der Strasse der Stärkste zu sein.

Beobachter: Und es sind die Jungen...
Bächli-Biétry: Das ist ein entwicklungspsychologisches Phänomen. Junge Männer zwischen 17 und 25 suchen ihre Werte und ihre Identität. Und in diesem Alter ist die Risikobereitschaft extrem hoch. Wenn ihnen unsere Gesellschaft in dieser kritischen Lebensphase Rennboliden zur Verfügung stellt, ist das, wie wenn Sie ein einjähriges Kind mit Messern spielen lassen.

Beobachter: Wann ist für Sie jemand ein Raser?
Bächli-Biétry: Nicht jeder Schnellfahrer ist ein Raser. Ein Raser nimmt in seinem Geschwindigkeitsrausch extreme Risiken für andere in Kauf. Er sucht im Risiko den Kick.

Beobachter: Sie begutachten seit Jahren Raser. Gibt es ein gemeinsames Merkmal?
Bächli-Biétry: Ja, die extreme emotionale Beziehung zum Auto. Sie sind richtiggehend abhängig von ihrem Fahrzeug. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie die anderen Verkehrsteilnehmer grundsätzlich als Konkurrenten sehen. Wenn einer dazu noch das gleiche Auto fährt, ist das eine Herausforderung, sich zu messen.

Beobachter: Gibt es fürs Rasen typische Automarken?
Bächli-Biétry: BMW, Audi und für die Türken der Mercedes. Auch vom Subaru Impreza erzählen mir viele mit glänzenden Augen.

Beobachter: Wie entscheiden Sie, ob ein Raser wieder ein Auto lenken darf?
Bächli-Biétry: Ich spreche mit meinen Probanden über ihre Vorgeschichte und mache Persönlichkeitstests. Weiter teste ich ihren Charakter mit einer Art Fahrsimulator. Die Ergebnisse sind meist sehr eindeutig: Raser fahren zu schnell, sind schludrig und können ihre Impulse schlecht kontrollieren.

Beobachter: Obwohl sie wissen, dass sie getestet werden?
Bächli-Biétry: Klar, denn die jungen Männer wollen mir zeigen, dass sie sehr gute Autofahrer sind.

Beobachter: Wie vielen geben Sie das Billett zurück?
Bächli-Biétry: Die Durchfallquote liegt bei über 80 Prozent. Die meisten sehen ihre Tat nicht ein. Die Klienten müssen etwas in ihrem Leben ändern, etwa ihren Rennboliden gegen einen Kombi eintauschen oder sich nicht mehr mit den alten Kollegen treffen.

Beobachter: In der Schweiz soll es wieder eine Formel-1-Rennstrecke geben. Was halten Sie davon?
Bächli-Biétry: Es ist ein Blödsinn, zu glauben, dass junge Autofans auf Rennstrecken quasi ihren Temporausch ausleben und dann auf der Strasse vernünftig fahren. Nicht einmal Rennfahrer wie Ralf Schumacher haben sich auf der normalen Strasse im Griff.

Beobachter: Sie beurteilen auch Todesfahrer. Wann dürfen diese wieder Auto fahren?
Bächli-Biétry: Ich hatte bisher etwa zehn in meiner Praxis und konnte keinen wieder für den Verkehr zulassen. Die meisten verdrängen die Tat, sind sich keiner Schuld bewusst und sagen, dass der Unfall jedem hätte passieren können. Solche Leute müssen in längere Psychotherapien.

Beobachter: Was bringt Raser zur Vernunft?
Bächli-Biétry: Am wirksamsten ist, wenn sie nicht mehr am Verkehr teilnehmen dürfen. Es trifft sie hart, wenn man ihnen das Billett oder das Auto wegnimmt. Nützen würde eine PS-Beschränkung für Neulenker, die Delikte begangen haben. Vorstellen könnte ich mir auch ein Nachtfahrverbot und 0,0 Promille.