Stress: Wenn die Seele Alarm schlägt
Herzrasen, Schweissausbrüche, Schlafstörungen: Jeder Vierte leidet unter Stress. Doch es gibt Mittel gegen die chronische Uberlastung im Alltag.
Veröffentlicht am 14. August 2000 - 00:00 Uhr
René Keller ist Hektik gewohnt. Der 55-jährige Familienvater verrichtet als Lastwagenfahrer und Monteur bei einem Elektrizitätswerk Schwerarbeit. Keller packt gerne an. Aber manchmal wird es ihm zu viel. Dann ärgert er sich über die «Herren da oben, die zu wenig Leute einstellen». Zum Beispiel, als der Sturm «Lothar» gleich reihenweise Masten knickte und ganze Stromnetze lahm legte. «Es war unglaublich, wir hätten an zehn Orten gleichzeitig sein sollen.»
Auch die 45-jährige Maria da Silva müsste öfter an mehreren Orten gleichzeitig sein. Die Portugiesin arbeitet als Hilfsschwester in einem Chronischkrankenheim. Sie besucht einen Intensivkurs in Deutsch und hat vor vier Monaten eine Pflegeausbildung begonnen. Um die Kurskosten bezahlen zu können, putzt sie dreimal pro Woche bei Leuten im Quartier. Das Pensum ist kein Problem, die psychische Belastung im Krankenheim schon. Wie manche Menschen dort leiden, wie sie sterben. «Darüber redet niemand.»
Der Chef macht Stress
Auch Pascal Marti, 38 Jahre alt und Sachbearbeiter bei einer Grossbank, hat Stress am Arbeitsplatz. Der Grund ist klar: «der Chef». Eine «menschliche Null» sei der und das Betriebsklima «zum Davonlaufen». Marti: «Alle wissen Bescheid, aber nichts passiert.» Eine Kollegin habe sich zu wehren versucht und «ist geflogen». Seither herrscht Ruhe. «Aber was für eine!», seufzt Marti resigniert. Sobald er eine andere Stelle findet, wechselt er.
Keller, da Silva, Marti alle reden von Stress. Doch was genau ist Stress? Der Begriff kommt aus dem angelsächsischen Sprachraum und bedeutet «Druck», «Spannung», «Beanspruchung». Manche Fachleute unterscheiden zwischen positivem «Eustress» und negativem «Distress». Wieder andere verstehen unter Stress einzig einen «intensiven, unangenehmen Spannungszustand in einer für den Betroffenen bedrohlichen und andauernden Situation».
Auch in der Alltagssprache hat Stress meist eine negative Bedeutung. «Ich bin im Stress» ist zwar eine Redensart, die zum modernen Lebensstil gehört wie das Handy. Und jeder weiss aus eigener Erfahrung, dass vorübergehende Belastungen im Leben unvermeidlich sind.
Auch dass Stress in Form einer positiven Herausforderung dem Alltag die nötige Würze verleihen kann, ist eine Binsenweisheit. Doch wir alle spüren instinktiv, dass es auf die Stressdosis ankommt. Und dass eine Gesellschaft, in der kaum jemand mehr Zeit hat, an einem ernsthaften Problem leidet.
Jeder Mensch reagiert anders auf Stress. Was die einen als bedrohlich werten, bezeichnen andere als harmlos. Das gilt für das Mass an Stress ebenso wie für die Auslöser, in der Fachsprache «Stressoren» genannt. Der Umstand, dass etwas als Stress empfunden wird, signalisiert letztlich aber immer dasselbe: Es ist zu viel.
Auch die unmittelbare körperliche Reaktion auf Stress ist unabhängig von der Ursache bei allen Menschen gleich: Der Puls wird schneller, der Blutdruck steigt, die Muskeln spannen sich. Je nach Intensität des Stressempfindens kommt es zu Schweissausbrüchen, Herzrasen und Blackouts. Dauerstress verursacht Depressionen, Ausgebranntsein (Burnout), Kopfschmerzen, Schlafstörungen sowie Rücken- und Magenprobleme. «Stressrauchen», «Stresstrinken» und Medikamentenmissbrauch sind häufige Reaktionen auf chronische Überlastung.
Arbeit ist der grösste Stressfaktor
Laut Erhebungen des Instituts für Arbeitspsychologie der ETH Zürich beschreibt jeder vierte bis fünfte Arbeitnehmer in der Schweiz seine berufliche Tätigkeit als «hektisch», «stark ermüdend» und «nervenaufreibend». 12 Prozent der erwerbstätigen Frauen und 14 Prozent der Männer beurteilen ihre Arbeit als gesundheitsgefährdend.
Häufiger als die viel zitierten Manager leiden Angestellte in tieferen Chargen unter Stress. Alleinerziehende, Frauen in der zweiten Lebenshälfte mit geringem Einkommen, Personen mit beruflich-familiärer Überlastung und mangelhafter sozialer Absicherung sind besonders gefährdet.
Bei ihnen summieren sich oft mehrere Faktoren zu einem erheblichen Gesundheitsrisiko:
Das Gefährliche dabei: Viele Menschen merken gar nicht, dass sie gestresst sind. Häufig sind die Folgen nur in der Freizeit spürbar, durch Abgeschlagenheit, Müdigkeit und Energielosigkeit. Gerade diese Signale sollten aber ernst genommen werden. Oft versteckt sich dahinter die gefährlichste Art von Stress: der permanente Alarm als akzeptierter Dauerzustand.
Die Gründe für die Stress-Epidemie liegen vor allem in der Arbeitswelt. Der immer härtere Wettbewerb, die rasante technologische Entwicklung und der Wandel von der Industriearbeit zur Dienstleistung haben vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zugesetzt und die Unsicherheit am Arbeitsplatz erhöht.
Ivars Udris, Arbeitspsychologe bei der ETH, stellt einen zunehmenden Druck und eine Verschärfung der Anforderungen am Arbeitsplatz fest: «Arbeitnehmer müssen heute laufend umdenken und umlernen, das Fachwissen ist schnell überholt, Zeit- und Termindruck nehmen zu. Überstunden und unregelmässige Arbeitszeiten sind die Folge.» Aber auch Arbeitsort und Arbeitsformen lösen sich immer mehr auf. Viele Angestellte haben schon gar keinen festen Arbeitsplatz mehr. Vor allem ältere Arbeitnehmer fühlen sich von dieser Entwicklung oft überfordert.
Zu den gesellschaftlichen Ursachen kommen individuelle Gründe. Diese können arbeitsplatzbedingt, physisch oder psychisch sein. Ein ergonomisch falsch eingerichteter Arbeitsplatz oder ein permanent hoher Lärmpegel können Stress ebenso fördern wie anhaltende Über- oder Unterforderung sowie Mobbing.
«Positiv denken» genügt nicht
Wo viele leiden, sind Helfer nicht weit. Kurse zur Stressbewältigung finden sich überall. Hinzu kommen Hunderte von Ratgebern in Buchform. Ein beliebtes Rezept stammt vom Herzspezialisten und Aerobic-Erfinder Kenneth Cooper, der den Stress schon in den siebziger Jahren zum Naturgesetz erhob: «Weil der krank machende Stress nicht zu eliminieren ist, sollten wir ihn erstens akzeptieren und zweitens in positiven Stress umwandeln.» Ratschläge wie «Denken Sie positiv» sind denn auch schnell zur Hand. Genügen sie, um dem immer grösseren Arbeitsdruck standzuhalten?
Ulrich Thielemann vom Institut für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen, ist skeptisch: «Stressmanagement scheint ein wechselseitig vorteilhaftes Tauschgeschäft zu sein», schreibt er. «Die eine Seite (die Arbeitgeber) bietet weniger Stress (beispielsweise durch Time- und Stress-Management-Seminare), die andere Seite (die Arbeitnehmer) bietet eine erhöhte Leistungsfähigkeit. Die Grenzen, innerhalb derer Stress unter Beibehaltung oder gar Steigerung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit auszuhalten ist, werden so immer weiter hinausgeschoben.»
Im Klartext: Wer hundert Kilo tragen kann, schafft wenn er sich nur mehr anstrengt vielleicht auch zweihundert. Doch dreihundert schafft er nicht mehr.
Zudem: Wer gestresst ist, arbeitet unsorgfältig, hektisch und geht Risiken ein. «Der Zustand von Anspannung und Erregung verhindert ein überlegtes Handeln», sagt der Betriebspsychologe Ruedi Rüegsegger von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (Suva). «Die Wahrnehmungsfähigkeit wird massiv eingeschränkt, in der Hektik vergreift oder vertippt man sich, man vergisst wichtige Dinge und kontrolliert seine Arbeit nicht mehr. Die Unfallgefahr steigt markant.»
Auf das Konto von Stress gehen mehrere hundert Millionen Franken Unfallkosten pro Jahr. Rechnet man die Kosten für krankheitsbedingte Absenzen und Personalwechsel hinzu, kommt man locker auf einen jährlichen Milliardenbetrag. Doch nach wie vor wird Stress nicht als Berufskrankheit anerkannt.
Dass diese Rechnung irgendwann nicht mehr aufgehen kann, ist nahe liegend. Das heisst aber nicht, dass wir dem Stress hilflos ausgeliefert sind. Der Weg zur Gelassenheit und damit zurück zur Lebensqualität führt über jene zwei Faktoren, die unser Leben grundsätzlich prägen: das eigene Verhalten sowie die Verhältnisse, in denen wir leben.
Eigene Ressourcen stärken
Als Sofortmassnahme in akuten Krisensituationen empfiehlt Ruedi Rüegsegger:
Über Stressspitzen kann auch ein kurzes Timeout hinweghelfen: Reservieren Sie immer wieder Zeit für sich selbst und seien es nur ein paar Minuten pro Tag. Suchen Sie sich «Verbündete»: Fragen Sie, wie es anderen Mitarbeiterinnen und Kollegen im Betrieb geht. Machen Sie gemeinsame Kaffeepausen, oder gehen Sie mit ihnen zum Mittagessen. «Geteiltes Leid ist halbes Leid.» Gemeinsam können Sie auch eher etwas gegen Missstände am Arbeitsplatz unternehmen.
Wie gut wir Stressoren ertragen und mit ihnen umgehen können, hängt stark von unseren Ressourcen ab. Damit sind alle Quellen gemeint, die uns helfen, besser mit Belastungen umzugehen und gelassener zu reagieren: körperliche Fitness, psychische Widerstandsfähigkeit, fachliche Qualifikationen, soziale Kompetenz, Unterstützung durch die Familie und Vorgesetzte oder Kollegen, kooperatives Arbeitsklima und manches mehr. Auch die Lebensgeschichte gehört dazu: Wer auf hilfreiche und konstruktive Verhaltensmuster zurückgreifen kann, hat es leichter als jemand, der Druck und Hektik nicht gewohnt ist.
Das Denken in Ressourcen geht also vom halb vollen Glas aus und nicht vom halb leeren. «Was hält den Menschen trotz Stress gesund?», lautet die zentrale Frage in der modernen Arbeitswissenschaft und nicht: «Was macht ihn bei der Arbeit krank?» Ziel ist ein inneres und äusseres Gleichgewicht, eine Balance zwischen Leistung und Belohnung, Spannung und Entspannung. In dieser Balance, so der Stressforscher Ivars Udris, haben wir ein starkes «Kohärenzgefühl». «Wir können das, was um uns herum abläuft, verstehen und nachvollziehen. Wir fühlen uns den Anforderungen des Lebens gewachsen, und wir sehen im Ganzen einen Sinn.»
Die Firma in die Pflicht nehmen
Fitness-, Entspannungs-, Time-Management- und manch andere Kurse, die Arbeitgeber dem Personal anbieten, können zwar die Belastbarkeit vergrössern. Doch oft ändern sie nichts oder nur wenig an den grundlegenden Ursachen für die Überdosis Stress. Pascal Martis Chef etwa bleibt ein arroganter Chef, auch wenn Marti ein Lauftraining absolviert und Atemübungen macht. An der Hektik und am Arbeitsanfall bei Naturkatastrophen kann René Keller trotz Zeitmanagementkurs nichts ändern. Dazu müsste der Hebel beim Personalbestand im Betrieb angesetzt werden.
Stress ist zwar eine subjektive Grösse. Stress ist aber nicht nur ein persönliches Problem. Die Firma ist für die Gesundheit der Mitarbeiter mitverantwortlich auch von Gesetzes wegen. Sie ist daran interessiert, dass die Angestellten gesund bleiben und gute Arbeit leisten. Suchen Sie deshalb das Gespräch mit Ihrem Vorgesetzten.
Bei der Krankenschwester Maria da Silva und ihren Kolleginnen hat es genützt: Um das Pflegepersonal zu entlasten, hat die Klinikleitung eine Supervision bewilligt. Seit belastende Vorkommnisse im Team besprochen werden, geht es etwas besser auch wenn es für gesunde Arbeitsverhältnisse mehr braucht als Unterstützung in Krisen.