Technikwahn: Die Computer schlagen zurück
Computer sollten das Leben erleichtern. Stattdessen nerven sie zunehmend mit ihren Pannen. Wer Pech hat, landet wegen eines Systemfehlers im Gefängnis.
Ein Informatikraum im Zürcher Industriequartier. Der
automatische Greifarm packt eine neue Datenkassette
und lässt sie fallen. Die Folge: Zwei Stunden lang ist
das EC-direkt-System lahm gelegt. Und das am letzten Einkaufstag
vor Weihnachten!
Nur ein ärgerlicher Zwischenfall zwar. Doch wie bereits
die Computerumrüstaktionen anlässlich des Millenniumwechsels
gezeigt haben: Informatik ist das ganze Leben. Sobald Computer
nicht oder falsch funktionieren, droht gewaltiger Schaden.
Die Angst, dass die Maschinen den Zahlensprung von 1999 auf
2000 nicht schaffen würden, verschlang Unsummen und beschäftigte
ein Heer von Informatikern.
Zu Recht: Hätten die Computer nicht funktioniert, wäre
es so befürchtete CVP-Ständerat Carlo Schmid
möglicherweise zu einem «Zusammenbruch der
Grundversorgung des Landes insbesondere im Bereich von Elektrizität,
Gas, Wasser, Telefon, Transport» gekommen. Sogar den
Zivilschutz wollte Schmid aufbieten lassen, um den gewohnten
Komfort «für eine mehrtägige Dauer zu gewährleisten».
«Das Jahr-2000-Problem hat uns drastisch vor Augen
geführt, wie unglaublich abhängig wir in unserem
Alltag von Informatiksystemen aller Art sind», sagt
der ETH-Informatiker Daniel Aebi. Besonders heikel ist «unsere
Abhängigkeit von der Technik in Notlagen», meint
der Freiburger Informatikprofessor Andreas Meier. Und er hat
dafür auch gleich ein Beispiel: «Was passiert,
wenn ein wichtiger Spitalcomputer ausfällt?» Für
den amerikanischen Computerpionier Joseph Weizenbaum ist jedenfalls
klar: «Wir rasen frontal in eine Region mit vielen Eisbergen
und wir fahren blind.»
Unglaublicher Informatikboom
Ob im Büro oder zu Hause: Die Informationstechnik dringt
in alle Lebensbereiche vor. Laut dem PC-Marktmonitor der Robert
Weiss Consulting waren Anfang Jahr «in der Schweiz rund
4,7 Millionen PCs im Einsatz». Drei von vier Personen
arbeiten zeitweise am Bildschirm. Und in mehr als der Hälfte
aller Haushalte steht ein Computer.
Ein niemals erwarteter Boom. «Weltweit wird es für
etwa fünf Computer einen Markt geben», sagte ein
IBM-Manager 1943. Und noch 1977 meinte Uken Olsen, Gründer
des Computerherstellers DEC: «Es gibt keinen Grund,
dass jemals irgendjemand einen Computer wird zu Hause haben
wollen.» Doch der Boom hat seinen Preis: «Die
Informationstechnik steckt noch immer mitten in einer stürmischen
Entwicklung und hat ihr Reifestadium sicher noch nicht erreicht»,
glaubt der Informatikexperte Hansjürg Mey.
Die Folge des Technikwahns sind Pleiten, Pech und Pannen.
Das Resultat: ein landesweiter Aufschrei wie beim EC-direkt-Absturz
oder tragische Einzelschicksale. Beispiel José
Antonio Punal: Der unbescholtene Aargauer landete fünf
Tage hinter Gittern. «Ich wurde verhört, durfte
keine Telefonate führen, keine Besuche empfangen und
hatte keinen Fernseher in der Zelle», erzählt er.
Der Vorwurf: Punal sei gefilmt worden, als er mit einer gestohlenen
EC-Karte an einem Bancomaten Geld bezog. Doch dann merkten
die Beamten, dass die Uhren in der Videokamera und im Bancomaten
zeitverschoben liefen. Der echte Dieb hatte eine Minute vor
José Antonio Punal am Geldautomaten hantiert.
Aus «verloren» wird «gestohlen»
Ähnlich erging es der Baslerin Ruth B. Sie erschien
gar mit Fahndungsfoto in der Presse. Grund: Sie solle eine
seit Monaten gesuchte Bancomatbetrügerin sein. Der Schock
sass tief: «Ich fiel aus allen Wolken, als mir mein
Mann die Zeitung mit meinem Bild zeigte.» Tagelang lebte
die Frau «praktisch nur noch von Beruhigungstabletten».
Auch hier merkten die technikgläubigen Beamten zu spät,
dass die Uhr in der Videokamera des Bancomaten falsch lief.
Wie explosiv der Mix aus übereifrigen Beamten und
Computerfehlern sein kann, erlebte Andreas Werthmüller.
Von der Aargauer Polizei wurde er zum Anhalten gezwungen,
mit der Pistole am Kopf aus dem Auto gezerrt, nach Waffen
abgetastet und in Handschellen gelegt. Seinen Namen wollte
niemand wissen. Erst auf dem Polizeiposten klärte sich
der Irrtum. Andreas Werthmüller hatte sein Autonummernschild
verloren. «Weil es in der Polizeidatenbank keine Rubrik
verloren gibt, wurde die Autonummer unter gestohlen
aufgelistet», rekonstruiert Werthmüller. «Und
dieser Eintrag war im Computer nicht gelöscht worden,
obwohl ich längst ein neues Schild bekommen hatte.»
Noch schlechter erging es dem Amerikaner Bronti Kelly, der
in den neunziger Jahren in die Schlagzeilen kam. Der ehemalige
Soldat wurde eines Tages entlassen und jahrelang nirgends
mehr angestellt. Erst später erfuhr er den Grund: Ein
Mann hatte ihm Jahre zuvor die Ausweise geklaut und diese
später bei einer Verhaftung der Polizei präsentiert.
Seither ist Bronti Kelly in diversen Datenbanken als Ladendieb
registriert. Weil die Angaben nicht zu tilgen waren, erhielt
er ein Polizeiattest, das ihm eine weisse Weste bescheinigte.
Auch Experten oft überfordert
Vor unliebsamen Datenbanken müssen sich in der Schweiz
nur die schlechten Zahler fürchten. Sagt zumindest die
Zentralstelle für Kreditinformation (ZEK). Sie sammelt
für rund 80 Firmen Daten über Besitzer von Kreditkarten,
Leasingverträgen oder Konsumkrediten. Doch auch hier
passieren Fehler: So bekam just der eidgenössische Datenschutzbeauftragte
Odilo Guntern keine Kreditkarte, weil auf seinen Namen eine
Betreibung gespeichert war. Ein Irrtum. «Als einer meiner
Kunden betrieben wurde, vermerkte man die Forderung fälschlicherweise
bei mir», staunte der Briger Notar hinterher.
Für Laien sind die meisten Computerflops unverständlich.
Für Experten leider häufig auch. Denn der Griff
in die Tastatur eines Rechners garantiert noch keine Korrektur.
Mögliche Fehler: mangelhaftes Programm, ein schlecht
vernetztes System, ein Computerausfall oder eine falsche Eingabe.
«Die Unzulänglichkeiten der Geräte und der
Software sind aus meiner Sicht das grössere Übel
als falsche Handhabung», meint der Freiburger Informatikprofessor
Andreas Meier.
Mängel sind buchstäblich programmiert. «Die
fehlerfreie Software gibt es gar nicht», sagte Miracle-Chef
Peter Schüpbach nach dem Absturz seiner Langenthaler
Softwarefirma. Und er bemängelte die «Nullfehler-Kultur»
in der Schweiz. Klagen von unzufriedenen Kunden hatten den
Niedergang von Miracle beschleunigt. Schüpbach: «Wir
müssen Fehler zulassen.»
Software mit über 63000 Fehlern
Das weiss auch der Branchenleader. Kurz bevor Microsoft vor
einem Jahr das Programm «Windows 2000» lancierte,
wurde ein internes Papier publik. Das Produkt enthalte über
63000 mögliche Defekte, schrieb der Entwicklungschef
in einem Memo. Der Softwaremulti bemühte sich um Schadensbegrenzung.
So sei die Aussage «aus dem Zusammenhang gerissen und
völlig ungenau», weibelte das Marketingpersonal.
Fehler im Programm oder ein falscher Umgang mit Computern
sind das eine bewusste Angriffe von aussen das andere.
Wirklich sicher sind Daten nur, «wenn buchstäblich
kein Kabel vom Computersystem in die Aussenwelt führt»,
warnte der finnische Sicherheitsexperte Mikko Hyppönen
in der «Sonntags-Zeitung».
In der Schweiz will sich die neue Stiftung Infosurance des
Problems der Sicherheit annehmen. Die Angriffsfläche
im vernetzten Computer ist breit: Hackerattacken, Viren, Spionage,
Sabotage oder der Ausfall von Steuerungssystemen. Unter dem
Druck der Konkurrenz ist die Wirtschaft gezwungen, jede Informatikentwicklung
mitzumachen. Die Stiftung will auf Gefahren und Risiken aufmerksam
machen und Gegenstrategien aufzeigen. «Jeder
weitere Schritt bringt neue Chancen, aber auch neue Risiken»,
weiss Infosurance-Projektleiter Ivo Pfister. So wünschen
immer mehr Kunden das Internetbanking was die Gefahr
erhöht, dass Fremde aufs private Konto zugreifen.
Sicher ist: Zu viele Benützer vertrauen blind den Ziffern
auf ihrem Bildschirm. Eine gefährliche Tendenz, warnt
Werner Moser, Ombudsmann der Stadt Zürich. Immer wieder
flattern ihm Streitfälle auf den Tisch, die sich durch
eine kritische Prüfung hätten verhindern lassen.
«Computer sind nur so zuverlässig und leistungsfähig
wie die Personen, die sich an ihnen zu schaffen machen»,
sagt Moser. Es dürfe nicht so weit kommen, «dass
der Diener der Verwaltung die Verwaltung ersetzt».
«Versehentlich» falsch mutiert
Auch die Privatwirtschaft hat ihre Computer nicht immer im
Griff. 23 Jahre lang war Christian Möckli reformierter
Pfarrer in Küsnacht ZH. Monate nach seiner Pensionierung
schickte ihm die Swisscom Rechnungen für Anschlüsse
im Pfarramt Küsnacht. «Diese Rechnungen sind immer
durch die Kirchgemeinde beglichen worden», teilte Möckli
der Swisscom mit.
Trotz regem Briefwechsel blieb das Problem bestehen; die
Swisscom liess die Geldbeträge sogar direkt von Möcklis
Postcheckkonto abbuchen. Und sie behauptete: Früher seien
die Rechnungen immer «durch Ihr PC-Konto beglichen worden».
Falsch, aber erst nach Monaten räumte die Swisscom ein,
der Anschluss sei «versehentlich» unkorrekt mutiert
worden.
Gegen mindestens ebenso viel Sturheit kämpft Daniel
Studer aus Winterthur, ein pünktlicher Zahler von Rechnungen.
Mit dem anderen Daniel Studer, der offenbar überall Schulden
hinterlässt, hat er nichts zu tun. Dennoch wird er mit
Verlustscheinforderungen der Inkassofirma Intrum Justitia
bombardiert. 625 Franken hier, 717 Franken dort. Nachdem sich
Studer vor einem Jahr wehrte, entschuldigte sich die Firma
«in aller Form dafür, dass irrtümlicherweise
Briefe an Sie versandt wurden». Exakt 14 Tage später
wurde die Schuld von 717 Franken erneuert. Und im letzten
Dezember tauchte mit einer Arztrechnung von 993 Franken eine
neue Forderung auf freundlicherweise mit «40
Prozent Erlass als unser Weihnachtsgeschenk». Daniel
Studer hat sich inzwischen einen Anwalt genommen.
104-Jährige soll in Kindergarten
Pannen hin oder her: Der Glaube an das Wunderding Computer
scheint ungebrochen. Jüngste Hoffnung der Branche ist
der Altersbetreuer «Care-O-bot». Er soll dereinst
auf Kommando Kaffee oder Tabletten bringen und Blumen giessen.
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Denn die Computer
von heute scheitern manchmal bereits an kleinsten Aufgaben.
So machte ein Rechner in Süditalien keinen Unterschied
zwischen den Zahlen 4 und 104. Er bot deshalb die mehrfache
Urgrossmutter Maria Luisa Pietraroia auf, sich im Kindergarten
einzuschreiben. Die 104-Jährige reagierte gelassen: «Der
Herr hat es so gewollt.»