Wie unangenehm ein heftiger Schluckauf sein kann, weiss jeder – auch wie schwierig es ist, die Zuckungen zu unterdrücken. Serienweise schiessen sie durch den Körper, ohne dass man sie willentlich beeinflussen kann.

Ähnlich äussert sich das Tourette-Syndrom. Doch statt des harmlosen Glucksens wie beim Schluckauf kommen laute Schreie heraus. Oder ganze Sätze ohne Inhalt, manchmal obszöne Beschimpfungen. Es können auch plötzliche und heftige Muskelzuckungen sein: Augenblinzeln, Grimassen oder Zuckungen in Armen und Beinen. Die Tics des Tourette-Syndroms sind vielgestaltig.

Bei Adrian Kraft ist es einerseits ein lautes, gellendes Schreien, das ihm in bestimmten Momenten entschlüpft, anderseits ein Zucken im Oberkörper. Aber dem schlaksigen,

hochgeschossenen 17-Jährigen ist manchmal auch gar nichts anzumerken. Dann ist er einfach ein sympathischer Teenager, der wie ein Wasserfall spricht und gern von seinen Hobbys erzählt: Bergwandern und Musik – Adrian bläst Horn in einem Jugendorchester.

Bei Adrian traten die Symptome bereits im Kindesalter auf. Mit vier Jahren setzte das Augenblinzeln ein, später folgten Körperzuckungen. Der Arzt hielt dies für kindliche Marotten, die fast alle Kinder hätten und die sich mit der Zeit auswachsen würden. Dass es sich nicht um Marotten handelte, wurde spätestens klar, als Adrian begann, die angewinkelten Ellbogen derart heftig auf die Rippen zu schlagen, dass er blaue Flecken bekam. Ein Neurologe diagnostizierte das Tourette-Syndrom.

Die Ausbrüche verändern sich

Die Tics waren unterschiedlich stark und wechselten ihre Erscheinungsform im Lauf der Jahre. Mit sieben Jahren begann Adrian zu schreien. Diese Ausbrüche  wurden mit zunehmendem Alter lauter. «Ein Urschrei», sagt Adrian, «ist nichts dagegen.» Jetzt, im Teenageralter, sind seine Tics nicht mehr so stark. Konzentriert sich Adrian, etwa beim Musizieren, bleiben sie sogar ganz aus. Beruhigungsmittel helfen ihm; sie haben aber starke Nebenwirkungen: Er wird davon rasch müde.

Adrian besucht eine Schule für motorisch leicht Behinderte.

Er leidet an einer Lese-Schreib-Schwäche, die allerdings

nicht auf das Tourette-Syndrom zurückzuführen ist,

sondern auf ein angeborenes Handicap, einen Hydrocephalus

(im Volksmund «Wasserkopf»). Später möchte

er gern Grabungstechniker in der archäologischen Forschung

werden.

Mit dem Tourette-Syndrom ist Adrian Kraft in guter Gesellschaft

– das Leiden wurde durch alle Epochen hindurch auch bei

grossen Geistern beobachtet. Der römische Imperator Claudius

zum Beispiel soll darunter gelitten haben, Zar Peter der Grosse,

der Dichter Molière, Napoleon, ja sogar Wolfgang Amadeus

Mozart. Letzterer zeigte Anzeichen von Koprolalie: Er stiess

zwanghaft Unflätigkeiten aus.

Es war der französische Neurologe Gilles de la Tourette,

der 1885 als Erster die «maladie des tics» als

eine hirnorganische Krankheit definierte. Heute nimmt man

an, dass ihr eine Fehlfunktion von Hirnpartien zugrunde liegt,

die die Bewegungskontrolle steuern – vielleicht in Kombination

mit erblichen Faktoren und äusseren Belastungen. Aussicht

auf Heilung besteht beim momentanen Forschungsstand nicht.

Trotzdem kann man mit der Krankheit ein normales Leben

führen und einen anspruchsvollen Beruf ausüben.

Unter den 3000 bis 4000 Tourette-Patienten in der Schweiz

gibt es sogar Chirurgen, Piloten und Lehrer. Nicht bei allen

Betroffenen ist die Krankheit diagnostiziert: Viele Ärzte

kennen die Symptome nicht. Erst in den letzten zehn Jahren

erfolgte dank Medien und Internet eine breitere Aufklärung.

Die Umwelt reagiert irritiert

Die Lebensgeschichten von älteren Tourette-Betroffenen

sind daher oft Leidensgeschichten. Falsche Behandlung, nutzlose

Klinikaufenthalte, Unverständnis der Mitmenschen –

manchen Kranken blieb nichts erspart. Wird das Leiden erkannt

und richtig therapiert, können die Betroffenen ein integriertes

Leben führen. Viele sind erfolgreiche Sportler oder Musiker

– in Hobby oder Beruf können sie den überstarken

Bewegungsdrang produktiv umleiten.

Tourette-Betroffene entwickeln Strategien, um mit der Krankheit

leben zu können. Als die Diagnose feststand, informierten

Adrians Eltern die Nachbarn, dass die Schreie und Grimassen

ihres Sohnes krankheitsbedingt seien. Verständlicherweise

reagieren viele Menschen irritiert oder erschrocken auf die

Tic-Ausbrüche von Tourette-Betroffenen, manchmal fühlen

sie sich auch provoziert. Adrian leidet unter den Reaktionen

der Umgebung, unter Hänseleien, Sprüchen, Anstarren

oder Nachäffen. Tramfahren und Restaurantbesuche sind

für ihn stressbeladene Situationen. Manchmal bekommt

er nur schon deshalb Tics, weil er sich vor dem Unverständnis

der Leute fürchtet. Wenn er dann schreien muss, hilft

nur noch eines: «Ich erkläre allen, dass ich eine

Krankheit habe und nichts gegen die Tics tun kann. Die Reaktionen

darauf sind immer positiv.»

Gute Information ist zentral

Mit Aufklärung lassen sich fast alle Hindernisse beseitigen.

Als sich Adrian vor dem Konfirmandenlager fürchtete,

organisierte der Pfarrer einen Informationsanlass: Adrians

Vater erklärte den Eltern das Tourette-Syndrom, Adrian

orientierte Kollegen und Kolleginnen. Das Resultat war erfreulich: Adrian genoss die Zeit und seinen unverhofften «Prominentenstatus». Als die Familie Kraft letztes Jahr nach Schottland reiste, trug Adrian Zettel mit sich, auf denen auf Englisch seine

Krankheit erklärt wurde. Glücklicherweise musste

er davon nie Gebrauch machen.

«Die Betroffenen können mit der Krankheit oft

besser umgehen als ihre Eltern», sagt Vater Hugo Kraft.

Scham, Schuldgefühle, Angst davor, das eigene Kind könne

das Leben nicht meistern, belasten die Eltern, weshalb sich

in den letzten Jahren Selbsthilfegruppen gebildet haben, organisiert durch die Tourette-Gesellschaft Schweiz www.tourette.ch

Die Tourette-Gesellschaft setzt auf breite Information.

Je breiter das Wissen um die Krankheit, desto besser können

die Betroffenen und ihre Angehörigen mit ihr leben. Mit

dem Wissen kommen Verständnis und Akzeptanz – das

erfahren auch Adrian und seine Familie immer wieder. Und die

positiven Erfahrungen helfen, Selbstbewusstsein zu erlangen.

Wie sieht seine Zukunft aus? «Das Tourette-Syndrom

ist ein Handicap, aber nicht so gross, dass Adrian im Leben

nicht bestehen könnte», umreisst Hugo Kraft die

Perspektiven seines Sohnes. «Er muss mit Einschränkungen

leben, aber er hat, auch durch den Rückhalt in der Familie,

genug Kraft, um seinen Weg zu machen.»