Das Problem:

«Ich konnte leider nie Psychologie studieren, habe mich jetzt aber hobbymässig damit zu befassen begonnen. Eine Bekannte hat mir das Enneagramm empfohlen. Was halten Sie davon?»

Rebecca H.

Koni Rohner, Psychologe FSP:

Das Enneagramm ist eine Typenlehre, die es ermöglicht, die Menschen in verschiedene Charaktere einzuteilen. Wieso nicht damit beginnen, Ihr psychologisches Verständnis zu vergrössern, solange Sie nicht bei einer blossen Einteilung stehen bleiben?

Typologien oder Charakterlehren haben eine lange Tradition, denn durch sie lässt sich die unendliche Vielfalt des Lebens ordnen. Das kann die Menschenkenntnis verbessern und grundsätzlich helfen, auch sich selber besser zu verstehen. Vor allem Letzteres scheint schon immer Sinn des Enneagramms gewesen zu sein.

Das Schema, das die Menschen in neun verschiedene Grundtypen einteilt, soll über 2000 Jahre alt sein und stammt aus der Weisheitstradition der Sufis, der Mystiker des Islam. Es diente den spirituell Suchenden im Mittelalter als Werkzeug zu grösserer Selbsterkenntnis. Seine Anwendung hat, ausgehend von den USA, seit den achtziger Jahren eine weite Verbreitung erfahren sowohl in der humanistischen Psychologie als auch unter Jesuiten und Franziskanern. Es stellt eine Verbindung zwischen Psychotherapie und Spiritualität her.

Nicht alles passt in ein Schema

Die kirchliche Herkunft erkennt man auch daran, dass die neun Charaktertypen (ennea = griechisch für «neun») neun «Wurzelsünden» entsprechen sollen. Mit dem schwer belasteten Wort «Sünde» sind allerdings lediglich falsche Selbstbilder gemeint, die wir aufgrund spezieller Begabungen entwickelt haben und an denen wir allzu stark festhalten. Das Enneagramm soll helfen, diese loszulassen und aus der Not eine Tugend zu machen. So kann zum Beispiel der Typ acht, der machthungrig und stark sein soll, Mitgefühl entwickeln und lernen, seine Kraft für andere oder für hohe moralische Ziele einzusetzen. Je drei Typen werden zu «Bauchmenschen», zu «Kopfmenschen» und zu «Herzmenschen» zusammengefasst.

Wie alle Typologien krankt allerdings auch das Enneagramm daran, dass sich der Reichtum und die Tiefe einer individuellen menschlichen Seele nicht in ein Schema pressen lassen und mit keiner Etikette wirklich treffend bezeichnet werden können. Wer nun also hingeht und seine Mitmenschen in die neun Kategorien einteilt, erlebt wahrscheinlich eher eine Bewusstseinsverengung als eine Bewusstseinserweiterung. Auch in der Selbsterforschung wird das Modell höchstens ganz am Anfang von Nutzen sein. Je besser man sich kennen lernt, umso deutlicher wird, dass man mehr ist, als man zuerst von sich glaubte. Ausserdem zeigt sich, dass Persönlichkeit und Charakter dauernd in Entwicklung sind. Erstens bin ich heute nicht genau derselbe wie gestern, und zweitens werde ich mich in fünf Jahren noch einmal anders erleben.

Die Menschen so nehmen, wie sie sind

Charakterlehren mögen einem Anfänger auf dem Gebiet der Psychologie zur Wahrnehmungsschärfung einen gewissen Dienst erweisen. Später sollte er aber ohne Schema versuchen, die Wirklichkeit der anderen und das eigene Erleben in all seinen Eigenheiten immer besser zu verstehen. In meiner psychotherapeutischen Praxis zeigt sich immer wieder, dass es nutzlos ist, die Menschen einer bestimmten Krankheits- oder Störungskategorie zuzuordnen. Therapeutisch wirksam sind die Neugier und die Bereitschaft, die Menschen vorurteilslos so zu nehmen und dort abzuholen, wie und wo sie gerade sind.

Kürzlich überraschte mich eine Klientin mit der Mitteilung, sie sei eben nach der Lehre von Fritz Riemann ein «schizoider Typ», der nichts und niemanden ganz an sich heranlassen könne. Ich war damit nicht zufrieden und fragte weiter. Es zeigte sich, dass die Frau bis heute, in der Mitte des Lebens, Angst davor hat, sich vor anderen zu blamieren. Dabei tauchte die Erinnerung an die Schulzeit auf, wie sie ausgelacht wurde, wenn sie eine falsche Antwort gab. Während sie so erzählte, spürte sie einen Druck auf der Brust und bekam Tränen in den Augen, weil sie plötzlich Mitgefühl mit dem eifrigen kleinen Mädchen empfinden konnte, das sie selber einmal war. Erst dadurch hat sie nun einen wirklich wichtigen «Knoten» in ihrer Seele entdeckt und erlebt, der sich so automatisch zu lösen begann.

So geschieht nach meiner Überzeugung wirklich fruchtbare Selbsterkenntnis, die nicht an der Oberfläche bleibt und die Persönlichkeitsentfaltung fördert.

Buchtipp

Richard Rohr, Andreas Ebert: «Das Enneagramm.» Die neun Gesichter der Seele. Claudius-Verlag, 2000, 35 Franken