Die Landwirte Baumann und Locher in Herbligen BE wussten nicht, wie ihnen geschah. Im letzten Herbst stapften plötzlich Fremde über ihr Land und verkündeten, sie würden hier Bohrungen vornehmen. «Sie wollten sofort loslegen, ohne uns zu sagen, warum», erinnert sich Niklaus Baumann. Die Besucher aus der Stadt gaben sich schliesslich als Ingenieure zu erkennen, die im Auftrag des Militärdepartements (VBS) Untersuchungen rund um das militärische Tanklager Herbligen durchführen sollten.

Den Bauern blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Worum es genau ging und was die Bohrungen zutage förderten, wissen sie bis heute nicht – wohl aber das VBS: Unter dem militärischen Tanklager befindet sich eine Deponie – gefüllt mit Gaswerkabfällen und Lösungsmitteln. Und die Untersuchungen zeigten Ungemütliches: Das Grundwasser rund um die Deponie ist durch die Abfälle stark verschmutzt. Mehr noch: «Auch der Boden, das Oberflächenwasser und die Luft sind betroffen», sagt der zuständige VBS-Beamte. «Die Sanierung eilt, denn einer der Bauern hat eine Hofquelle und trinkt das Wasser. Das sollte er nicht.»

Weder Baumann noch Locher besitzen eine Quelle, es trifft also einen anderen. Beunruhigt sind die beiden Bauern trotzdem: «Warum informiert man uns nicht über die Ergebnisse?», ärgert sich Baumann.

Böse Überraschungen warten auch anderswo. Zurzeit laufen im VBS die Arbeiten an einem Altlastenkataster auf Hochtouren. Fein säuberlich erfassen die Mannen aus dem Departement von Samuel Schmid 7947 potenziell verschmutzte Militärstandorte im Computer. Sie treffen Abklärungen, nehmen Proben und teilen die einzelnen Orte militärisch genau in verschiedene Kategorien ein. Im Moment spuckt der Computer eine Karte aus, die einen Untersuchungsbedarf für 2413 Standorte aufweist. Nicht nur das VBS, sondern auch die SBB und sämtliche Kantone müssen bis 2003 eine Liste mit allen belasteten Standorten erstellen. So will es eine Verordnung des Bundes.

Fünf vor zwölf für die Sanierungen
Bereits die Karte des Militärs zeigt: Der Schweizer Boden ist krank. Für Augen und Nasen oft unerkennbar, mottet an unzähligen Orten Giftmüll vor sich hin – mit verheerenden Folgen für Boden und Grundwasser. 40000 bis 50000 Standorte sind nach Schätzungen des Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) verschmutzt – davon fünf bis zehn Prozent so stark, dass sie möglichst schnell saniert werden müssten.

Der Preis für diese Übung ist gigantisch: «Wir schätzen die Kosten auf rund fünf Milliarden Franken», sagt Christoph Wenger vom Buwal. In den nächsten 20 Jahren müssen also jährlich mindestens 250 Millionen Franken in die Altlastensanierung gesteckt werden – optimistisch gerechnet. Denn das ganze Ausmass der Verschmutzung ist noch nicht bekannt.

Allein die Sanierung der grössten Sondermülldeponien wird nach neusten Schätzungen über eine Milliarde Franken kosten. Auch die grossen industriellen Betriebe der Schweiz geben jährlich zweistellige Millionenbeträge für die Beseitigung des unliebsamen Erbes aus. Die Firma ABB etwa blätterte seit 1992 bereits 69 Millionen Franken hin – und das nur an den drei Standorten Baden, Zürich Nord und Altstetten. Für das laufende Jahr sind wiederum 20 Millionen Franken budgetiert.

Viele der gefährlichen Abfälle stammen aus den letzten 50 Jahren, andere dümpeln seit bald 100 Jahren vor sich hin. Damals kippte man den Müll oft kurzerhand neben das Fabrikgelände: Lösungsmittel aus der Metallbranche, Schwermetalle aus Giessereien, Öle und Fette aus Tanklagern, Garagen und Produktionswerkstätten.

Insbesondere die chemische Industrie in Basel produzierte und lagerte munter Abfall. In seinem Buch «Farbenspiel» zeigt der Journalist Martin Forster auf, dass allein im Dreiländereck in Basel 47 alte Deponien existieren. Die grösste Zeitbombe tickt in Bonfol: Zwischen 1961 und 1975 kippten die Basler Chemiefirmen 114000 Tonnen Sondermüll in die Tongrube im Kanton Jura. Der giftige Deponiesaft droht heute das Grundwasser im französischen Sundgau zu verseuchen. Jetzt muss Bonfol total saniert werden. Geschätzte Kosten: 200 Millionen Franken.

«Das ist erst der Anfang. Es wird noch einiges auf uns zukommen», glaubt Stefan Weber, langjähriger Altlasten-Spezialist bei Greenpeace. Es sei wichtig, das Altlastenproblem schnell anzugehen. Der Grund: Die Firmen verschwinden – und die Leute, die wissen, was wo gelagert wurde, sterben aus. Tatsächlich stossen Bauleute und Umweltbeauftragte beinah wöchentlich irgendwo auf vergessenen Müll. Und manch idyllische Wiese entpuppt sich plötzlich als Tarnkappe für ein altes Güselloch. Bei Bohrungen auf dem Gelände einer ehemaligen Holzkonservierungsfirma im aargauischen Zofingen wurde vor kurzem ein neuer Verschmutzungsherd mit Teerölen entdeckt. In Zofingen ist man perplex, und das kantonale Baudepartement spricht von «einer Überraschung»; beim Areal handelt es sich um eine der letzten grossen Baulandreserven der Stadt Zofingen.

Auch den Bernerinnen und Bernern, die im Sommer barfuss den Aareweg im Marzili entlangspazieren oder ein erfrischendes Bad in der Aare nehmen, dürfte die Freude daran vergehen: Untersuchungen brachten an den Tag, dass die dünne Humusschicht unappetitliche Sickersäfte und Schlämme enthält: Benzol, Blei, Kupfer, Quecksilber, Zink, Gaswerkteer sowie polyzyklische Kohlenwasserstoffe. Dass dort Altlasten begraben sein könnten, ahnte man längst. Aber erst als das Hochwasser 1999 in dieser heiklen Zone einen Teil des Uferwegs wegspülte, schaute sich die Stadt die Sache genauer an. Jetzt wird für eine Million Franken saniert.

Streit um die Schuldfrage
Oft ist unklar, wer für die Beseitigung der Sauereien aufkommt. Zwar erhebt der Bund seit Anfang Jahr eine Abgabe auf inländischen Deponiegüsel und auf Abfallexport. Mit diesem Geld will er sich an den Sanierungskosten beteiligen, wenn der Verursacher nicht mehr zur Kasse gebeten werden kann. Krach um die Schuldfrage gibts trotzdem.

Jüngster Fall: Auf dem SBB-Bahnhofareal in Rivera TI wurde in einem baufälligen Gebäude eine starke Chromverschmutzung entdeckt. Die Gefahr ist gross, dass das Chrom ins Trinkwasser gelangt. Die Sanierungskosten werden auf drei bis vier Millionen Franken geschätzt. Doch statt endlich mit den Arbeiten zu beginnen, liegen sich die SBB und der Kanton in den Haaren, wer wie viel bezahlen muss. «Solche Streitereien werden auch künftig der Hauptgrund sein, weshalb es mit den Sanierungen nicht vorwärts geht», so René Gassmann vom Rechtsdienst der SBB.

Kleinfirmen in Angst Dazu kommt, dass das Interesse an der systematischen Aufdeckung der Altlasten nicht überall da ist. Manche Kantone haben noch gar nicht mit dem Erstellen des Katasters begonnen. Denn die finanziellen Auswirkungen der ökologischen Hypotheken gehen weit über die Sanierungskosten hinaus. Stark belastete Industriegelände lassen sich kaum noch verkaufen: Seit Mitte der neunziger Jahre verlangen Investoren detaillierte Untersuchungen über die Altlastensituation der Kaufobjekte.

Auch viele kleine Unternehmen fürchten sich vor der Altlastenerfassung. «Wer im Kataster eingetragen ist, muss mit erheblichen Nachteilen bei Bank- und Versicherungsgeschäften rechnen», stellt etwa der Glarner FDP-Ständerat Fritz Schiesser fest. «Einem kleinen Unternehmen kann dies das Genick brechen.» Tatsächlich ziehen Banken auch bei der Vergabe von Hypotheken Altlastenverzeichnisse als Informationsquelle herbei. Die Firma Ecofact in Zürich führt für die UBS jedes Jahr 50 bis 100 Untersuchungen durch, und die Zürcher Kantonalbank hat eigens eine Abteilung Ökologische Kreditprüfung.

Beispiel Selve-Areal (Bild) in Thun: Im letzten Dezember kam das Areal unter den Hammer. Ursprünglich wollte ein Bankenkonsortium einsteigen. Kurz vor dem Versteigerungstermin brachte ein Expertenbericht zutage, dass Sanierungen für nicht weniger als 47 Millionen Franken nötig wären: Dort, wo einst einer der grössten Arbeitgeber in der Region eine Giesserei und ein Blechwalzwerk betrieb, ist der Boden so stark mit Schwermetallen durchsetzt, dass die Erde bis zu fünf Meter tief abgetragen werden muss. Die Banken verloren ihr Interesse umgehend.

Der Stadt Thun und dem Kanton blieb nichts anderes übrig, als das Gelände für 3,7 Millionen Franken selbst zu übernehmen. Die Altlasten gabs gratis dazu.

Dieses Bild kann nicht angezeigt werden.