Dieses Jahr bin ich 18-facher «Vater» geworden. Da kann man sich ja in etwa ausrechnen, dass ich in den letzten 40 Jahren Hunderte von Jungschwänen ausschlüpfen sah. Seit meiner Schulzeit faszinieren mich diese Tiere mit ihrer Intelligenz und Lernfähigkeit. Heute gelte ich als «Schwanenvater von Horgen», weil ich die Paare in ihrem Revier entlang dem Zürichseeufer von Horgen während der Brut- und Aufzuchtzeit bewache und beschütze.

Nein, weder gegen Bezahlung noch im Auftrag der Gemeinde. Ich mache dies freiwillig. Sonst setzt sich ja niemand für die Rechte der Tiere ein. Die Gemeinde Horgen trägt zwar den Schwan in ihrem Wappen, aber bei den Beamten, insbesondere den Polizisten, stosse ich immer wieder auf Widerstand. Etwa bei der Durchsetzung eines Hundeverbots oder eines Leinenzwangs im Brutrevier. Mittlerweile habe ich mich damit abgefunden, dass man hierzulande noch gebüsst wird, wenn man den Tieren zu ihrem Lebensraum verhilft.

Tiere haben nur ein Gesicht
Dass ich zu den Tieren eine intensivere Beziehung habe als zu Menschen, dies hat einen einfachen Grund. Das Tier hat nur ein Gesicht, der Mensch hingegen hat mehrere. Nachdem mir 1996 ein ehemaliger Arbeitskollege eine Flasche auf den Kopf geschlagen hatte und ich einen Hirnschlag erlitt, verliess ich mich nicht auf die Schulmedizin, sondern suchte bei einem Geistheiler auf den Philippinen Hilfe. Nach drei unblutigen Eingriffen konnte ich mein Bein, das gelähmt war, bereits wieder belasten. Ich weiss, das klingt nach Hokuspokus. Aber so war es nun einmal. Eine Behinderung blieb trotzdem zurück – besonders wenn es um Zahlen geht. Für mich als gelernten Industrieelektroniker wurde es schwierig, eine qualifizierte Arbeit zu verrichten. Ich beziehe jetzt neben der IV-Rente auch Ergänzungsleistungen und schlage mich mit dem Existenzminimum durch. Aber es gibt noch ärmere Teufel als mich. Und ich kann immerhin Tag für Tag mit den Schwänen in der Natur verbringen.

Mit dem Paar Boris und Lara erlebte ich dieses Jahr ein einmaliges Ereignis. Es hat fremde Junge aufgenommen, das ist für Schwäne atypisch. Vier der heute zehn Jungen schlüpften bei einem anderen Paar aus, bei Max und Babette. Dann kam es zu einem nächtelangen Revierkampf zwischen den Elternpärchen. Ihre Jungen schlossen sich zusammen und flüchteten gemeinsam. Bei Boris und Lara fanden sie zu guter Letzt wieder Unterschlupf.

Das hat nur funktioniert, weil die fremden Jungen exakt zur gleichen Zeit zur Welt kamen. Ich habe mich gehütet, bei diesem Klamauk ums Revier einzugreifen. Dazu muss man wissen, dass ein Schwan mit seinen Flügeln bis zu 14 Kilo Körpergewicht in die Luft heben muss. Die Flügel-schläge können einen Menschen Kopf und Kragen kosten. Man muss sich eben immer bewusst sein, dass Schwäne Wildtiere und damit unberechenbar sind.

Blutegel unter den Lidern
Vor kurzem habe ich bei einigen Jungschwänen Blutegel unter den Augenlidern entdeckt und sie entfernen müssen. Das war nicht ganz unproblematisch. Im Normalfall greifen die Schwaneneltern einen Menschen an, sobald er ihre Jungen anfasst. Deshalb beginne ich gleich nach dem Schlüpfen der Tiere, langsam zur ganzen Familie ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, indem ich einfach still dasitze und warte, bis die Jungen auf mich zukommen. Das ist meist nach sechs Wochen der Fall. Wenn sie beispielsweise aus Neugierde an meinen Hosenstössen zupfen, verfolgen die Eltern solche Annäherungsversuche aufmerksam und respektieren sie auch.

Jetzt, dreieinhalb Monate nach der Schlupfzeit, bin ich immer noch den ganzen Tag mit den Schwänen zusammen. Wenn in Horgen die Fähre ein- und ausfährt, lotse ich die Schar in Sicherheit. Dann folgen die Tiere jeweils meinem Ruf: «Boris, Lara – hü Lisi hü!» Schwäne füttern ja ihre Jungen nicht von Schnabel zu Schnabel, sondern die Mutter wühlt mit ihren Flossen den Grund auf und befördert mit ihrem langen Hals Seegras an die Wasseroberfläche. Aber für insgesamt elf Junge, wie ich sie hier ursprünglich angetroffen habe, kann eine Schwanenmutter allein nicht genügend Futter besorgen. Also ergänze ich es mit Haferflocken, die sich auch bei Durchfall bestens bewähren – ich untersuche immer den Kot.

Brot ist für die Jungschwäne Gift. Dieses Jahr habe ich ein Schwänlein verloren, das vermutlich mit Hefegebäck gefüttert wurde. Der arme Teufel ist an den Blähungen eingegangen.

Letztes Jahr habe ich insgesamt rund eine Tonne Haferflocken für 1500 Franken gebraucht. Ich helfe den Tieren ja auch im Winter über die Runden und besuche sie zweimal täglich.

Jedes Jahr erlebe ich es als Krönung, wenn alle Jungen ohne eine Ausnahme ausschlüpfen; ich betrachte es auch als Bestätigung für alle meine Vorarbeiten. Unvergesslich bleibt mir das Drama im Hochwasserjahr 1999. Drei Wochen lang sass ich Tag und Nacht neben dem Nest mit den fünf Eiern und schleppte pausenlos Schilf an, damit das Schwanenweibchen sein Nest über Wasser halten konnte. Die fünf Jungen waren eigentlich schlupfbereit, als ein Sturm losbrach und das Nest zerfetzte. Zwar konnte ich vier Eier noch an Land retten. Die Jungen ausschlüpfen zu lassen wäre kein Problem gewesen. Aber künstlich geschlüpfte Jungtiere werden von den Eltern verstossen und haben keine Überlebenschance. Sie töten zu müssen war ein trauriges Erlebnis und hat mich nach diesem dreiwöchigen Kampf tief getroffen.

Tierschutz als Lebensinhalt
Glücklicherweise verlief dieses Jahr die Brut bei Boris und Lara problemlos, auch wenn es lange dauerte. Normalerweise schlüpfen die Jungen in zwölf Stunden. Weil es kühl war, dehnte sich der Vorgang auf 24 Stunden aus.

Bereits im Februar beobachte ich jeweils, wohin sich die Paare zum Nisten zurückziehen. Boris und Lara hatten die Jungschwäne vom letzten Jahr bis zum 21. März bei sich, dann vertrieben sie sie. Schon drei Tage später begannen sie wieder zu nisten, ein fast nahtloser Übergang.

Ich schätze, Boris und Lara sind acht und sieben Jahre alt – sie könnten mich spielend überleben. In der Betreuung und im Schutz der Schwäne sehe ich weiterhin meinen eigentlichen Lebensinhalt.