Niederwangen bei Bern gehört zu jenen Agglomerationsdörfern, auf deren letzten Wiesen die Bauprofile so dicht stehen wie Slalomstangen; dazwischen weiden die Freizeitpferde der Städter. Das Ende des Endes ist nahe: Die Bauern sind schon lange keine Bauern mehr; bald werden die Ställe überflüssig. Die meisten landwirtschaftlichen Bauten sind dementsprechend bereits umgebaut.

Die Vielfalt der Lösungen erinnert aber an das stilistische Kunterbunt einer Ansammlung von Fertighäusern. Architekt Conz von Gemmingen, 53, mag nicht kommentieren, was da unter den Walmdächern blüht. Sicher kann man die gebaute Umwelt als die herausragendste kulturelle Leistung der Menschheit bezeichnen; nur schon mengenmässig beherrscht die Architektur das Land. Aber kann es das sein?

Mut zum Generationensprung
Seinen eigenen Umbau am Stegenweg 1 in Niederwangen muss Conz von Gemmingen nicht selbst klassifizieren; er kann auf die Aussagen anderer verweisen. So liess ihn die Bau- und Planungskommission der Gemeinde wissen, er habe eine «mutige und konsequente Lösung» gefunden – und zwar «ohne die bestehende Struktur des Gebäudes zu beeinträchtigen». Conz von Gemmingen gibt das Kompliment zurück: «Eine derartige Idee lässt sich nur verwirklichen, wenn die richtigen Menschen am richtigen Ort sitzen.»

«Metamorphose» könnte man als Titel über das Werk setzen, das Neue sprengt das Alte. Oder prosaischer: Der ehemalige Stall gebärt eine Schachtel. Kraftvoll drängt sie aus dem Innern, und sie würde der Hülle ganz enteilen, wäre am nördlichen Ende nicht die Schwelle dieser kleinen Betonmauer als Abgrenzung zu den Parkplätzen.

Zwei Wohnungen hat Conz von Gemmingen gebaut, integriert in eine rechteckige Holzkonstruktion. Vier Zimmer, je 100 Quadratmeter, beheizt mit Erdwärme, die Sonne erhitzt das Wasser, und im alten Güllenloch sammelt sich heute Regenwasser für die WC-Spülung. In eineinhalb Tagen stellten Handwerker vorfabrizierte Holzelemente vor dem Gebäude auf, dann wurde die Box mit Seilwinden ins Innere des Stalls gezogen, aber nur bis zur Mitte. Nun ist sie halb drinnen und halb draussen. Der Auftrag kam von der Besitzerin. Rosa Guggisberg, Bauerntochter und im Haus aufgewachsen, hatte die Grösse zum Generationensprung. Überzeugt hat sie Conz von Gemmingens Ansatz, nichts am Haus zu zerstören, was noch gut und brauchbar ist. Dach und Stallfassade blieben stehen, auch die alte Tür zum Tenn hängt immer noch schief in den Angeln. Dahinter liegt nun das Treppenhaus der Schachtel, und auf den alten Aussenmauern finden sich die Bleistiftzahlen, mit denen sich der Bauer einst die Milchmengen (oder so) notiert hatte. Abgebrochen hat der Architekt einzig einen Schopf, damit Raum für die Erweiterung entstand. Auffälligste Eingriffe in das 1849 erstellte Haus sind Sonnenkollektoren, ein lang gezogener Schlitz im Dach – zur Beleuchtung der Schachtel – und neue Stahlträger zwecks statischer Festigkeit.

Conz von Gemmingen, Mitinhaber des Berner Architekturbüros «Baugruppe», hat Alt und Neu nicht verbunden; Box und Hülle halten respektvoll Abstand voneinander. 70 Zentimeter breit ist die Fuge zwischen Stallfassade und Neubau – ein bekiester Gang im Parterre, im Obergeschoss als schmaler Balkon genutzt. Die Trennung gehört zum Konzept; sie soll zeigen, dass das Haus nicht lügt. Conz von Gemmingen: «Rosa Guggisbergs Haus darf nicht mehr behaupten, es sei weiterhin ein Bauernhaus. Es muss sagen: ÐIch bin jetzt ein Mehrfamilienhaus.ð» Allerdings ohne die Vergangenheit abzustreiten. «Die Geschichte muss lesbar bleiben.» Für die Wohnungen verlangt die Besitzerin 2100 Franken im Monat, inklusive Nebenkosten. Dass die Schachtel zuerst ein halbes Jahr lang leer stand, führt Conz von Gemmingen auf den bewusst einfach gehaltenen Ausbaustandard zurück.

08/15-Block putzt sich heraus
Seit zehn Jahren sinken in der Schweiz die Investitionen für Neubauten – von jährlich 35 auf 24 Milliarden Franken –, in städtischen Gebieten zeigt sich sogar eine Trendwende bezüglich Bodenverschleiss: Der Flächenanspruch pro Kopf geht zurück. Das erstaunt aber kaum, denn die Zeit der grossen Expansion ist vorbei. In den Agglomerationen sind die Baulandreserven geschwunden, und das Bevölkerungswachstum ist auf 0,1 Prozent gesunken. Entsprechend wird mehr für Umbauten ausgegeben; hier haben sich die Ausgaben seit 1980 verdreifacht.

Die Leinfeldstrasse 18 in Trimbach bei Olten war in den sechziger Jahren gebaut worden, als die Industrie boomte und die Schichtarbeiter aus dem Ausland günstigen Wohnraum brauchten. Die Bezeichnung «Block» lässt sich kaum besser definieren als hier. 1999 war das Haus mit den zwölf Wohnungen reif für einen Umbau. Mehrere Wohnungen standen leer, weil die Mieter sich Besseres leisten konnten. Die Unterhaltskosten frassen die Rendite weg.

Die Besitzer engagierten Gian Fistarol und seine damalige Büropartnerin Heidi Stoffel. Die zwei Basler Architekten schauten sich das Haus an und kamen zum Schluss, dass ein Abbruch nicht in Frage kommt, da die Ausnützungsziffer heute tiefer ist als zur Zeit des Baus.

«Im Verlauf eines Nachmittags war die Lösung da», sagt Fistarol und nimmt die Aussage als «zu salopp» gleich zurück. Nur die erste Idee war schnell gefunden: ein Wintergarten. Danach begann die Arbeit.

Oranges Augenzwinkern
Der Block gibt vorerst nicht mehr preis als gängige Schweizer Vorort-Tristesse, er hält seine von der Strasse abgewandte Fassade verborgen. Erst beim Gang um das Gebäude zeigt sich die Verwandlung. «Rucksack» nennt die Zeitschrift «Hochparterre», was Fistarol gemacht hat: ein zwei Meter tiefes Anhängsel, darin 16 Quadratmeter zusätzlichen Wohnraum; die Fenster sind zu Schaufenstern gewachsen, und an den Wohnraum gliedern sich nochmals 16 Quadratmeter Terrasse an. Ein Stahlskelett, mit grauen Eternitplatten verkleidet, bildet den Untergrund. Resultat im Innern: Durch die Öffnung der Grundrisse verwandelte sich das bisherige Labyrinth von Gängen und Wänden in grosszügige, helle Wohnräume.

Der Reiz des Anbaus liegt in seiner Unauffälligkeit. Fistarol wollte weder Akzente setzen noch einen Bruch zwischen Neu und Alt thematisieren. «Das Ziel war, am bestehenden Gebäude weiterzubauen.» Der Block sollte seine Identität behalten können, auch mit dem Anbau. «Es braucht keine Konfrontation», sagt Fistarol. Die Zeit ist ein Kontinuum, der Wechsel vom einen Jahrtausend ins nächste ist rein mathematisch. Warum also künstliche Brüche in die Geschichte einflechten? Entstanden ist ein Anbau, der seinen Zeitgeist zwar nicht verbirgt, aber sich in die Umgebung einfügt.

Einen Hinweis auf ihre Anwesenheit konnten sich Fistarol und Stoffel trotzdem nicht verkneifen. Wenn die Sonne scheint, bricht plötzlich das warme Orange der grossflächigen Sonnenstoren in die Nüchternheit. Sind sie alle heruntergelassen, strahlt die ganze Fassade. Nach 40 Jahren Anonymität hat das Gebäude ein Gesicht erhalten, es zwinkert humorvoll.

Heute ist die Leinfeldstrasse 18 wieder voll vermietet, die Schweiz hat ein Aschenputtel weniger. Eine Vierzimmerwohnung kostet 1385 Franken, inklusive Nebenkosten und des umbaubedingten Aufschlags von zehn Prozent.

Frischer Wind hinter alten Mauern
Die Umlagerung im Bauwesen – weg von Neubauten – beeinflusst die Auftragslage der Branche. 70 Prozent ihrer Arbeitszeit setzt eine Mehrheit der Architekten heute für Umbauten ein, Tendenz steigend.

Architektin Margrit Baumann, 37, hat in Flüelen UR die alte Armeeapotheke umgebaut. Zwei Dinge will sie jedoch betont haben, bevor sie über das Projekt spricht. Erstens: «Ich habe das nicht allein durchgezogen.» Pietro Patocchi und Ester Ritter fällten zusammen mit ihr den mutigen Entscheid. Zweite Betonung: Der Kauf war quasi eine soziale Tat. Denn die Armeeapotheke liegt nördlich von Flüelen, davor ein kleiner Park mit Platanen, anschliessend nichts als Wasser. «Jetzt», sagt sie, «hat Flüelen einen öffentlichen Zugang zum See.» Das Soussol, einst Chemikalienlager, ist zum Restaurant mit Ufersitzplatz geworden, und im ersten Stock präsentieren heute zwei Säle Ausstellungen; auch hier hat die Öffentlichkeit Zutritt.

Ein Meter dick sind die Bruchsteinmauern im unteren Teil des Baus. 1872 wurden sie erstellt, ursprünglich für den repräsentierenden «Urnerhof», das erste Hotel der Gegend mit fliessend Wasser. Soeben war die Axenstrasse eröffnet worden – Flüelen profitierte. Acht Jahre später wurden die Gleise der Gotthardbahn zwischen Strasse und Haus gelegt; das Hotel war von seiner Ader abgeschnitten und ging Konkurs.

Dann kam die Armee. Sie beraubte das Haus aller Sinnlichkeit. Die Verwandlung in einen Zweckbau bedeutete aber auch, dass sämtliche Böden mit Linoleum abgedeckt wurden. Zur Freude von Margrit Baumann, denn die konsequente Askese des Militärs hatte Vorteile: Unter dem Linoleum entdeckte sie Nussbaumparkett, das auch nach 90 Jahren harter Belastung durch Nagel- und Bergschuhe immer noch perfekt erhalten war.

Als der Bund den idyllisch gelegenen Bau Anfang der neunziger Jahre zum Verkauf ausschrieb, gab es mehrere Interessenten. Luxusappartements wollte der eine, einen Neubau der andere. Die Gruppe mit Margrit Baumann erhielt den Zuschlag, «weil wir das Haus wirklich wollten». Und weil sie es wollten, boten sie mehr.

«Apertura» gilt für alle
Vielleicht gewannen sie auch, weil sie bewiesen hatten, dass ihr Nutzungskonzept auf Interesse stiess. Noch vor dem Kauf belegten Kunstschaffende Zimmer und Säle; Flüelen war um eine Attraktion reicher. Eine gemischte Nutzung sollte auch weiterhin das Ziel sein: Wohnen und Arbeiten am gleichen Ort, verbunden mit einem kulturellen Angebot und dem Restaurant.

Der Umbau war ein Wagnis, denn von den neun Wohnungen, die auf den ehemaligen Hoteletagen entstehen sollten, waren anfänglich nur drei verkauft. Doch Baumanns Konzept zog schnell Interessenten an. Sie plante nur den Rohbau, die Gestaltung der Innenräume wurde den Käufern überlassen. Und alles sollte einfach bleiben, fern von Perfektion. Wer hier einzog, hatte schriftlich zuzusichern, dass man keinen Lärmschutz gemäss SIA-Norm erwartete. Draussen lärmen Axenstrasse und Güterzüge, von oben sind die Tritte der Nachbarn zu hören. Margrit Baumann brachte es nicht übers Herz, die Decken herauszureissen und durch Beton zu ersetzen .

Im Lift hängt ein Porträt von Che Guevara, Postkartengrüsse aus Kuba. «Der Lift ist unser Anschlagbrett», sagt die Architektin. Sie wohnt zuoberst im Haus, Blick auf drei Seiten: See, Berg, Strasse. Aus sieben Zimmern wurden zwei. 140 Quadratmeter stehen ihr zur Verfügung. Dass fast in jedem Raum das Parkett anders gemustert ist, wird erst jetzt deutlich, nachdem die Zwischenwände entfernt worden sind. Auf 320000 Franken belief sich der Rohbau-Kaufpreis für eine Wohnung dieser Grösse.

Ganz fertig ist das Haus auch heute, ein Jahr nach Eröffnung, noch nicht. So fehlt etwa noch die umlaufende Terrasse aus der Anfangszeit, die das Militär abgerissen hatte. Doch das ist egal. Mit ihrem Umbau hat Margrit Baumann gezeigt, wie sehr sich Gebäude verwandeln können – vom Hotel zum Armeegebäude, vom Armeegebäude zum Kultur-, Arbeits- und Wohnort. Und die Geschichte des Hauses ist noch nicht zu Ende geschrieben: Die Nutzung kann sich eines Tages wieder verändern.

«Apertura» steht heute auf der Fassade des einstigen Hotels Urnerhof – «Öffnung». Das könnte auf (fast) jedem umgebauten Haus stehen.