«Der Klügere gibt nach. Aber nicht endlos»
Psychoanalytiker Peter Schneider zu Streit zwischen Nachbarn und wie dieser beigelegt werden kann.
Veröffentlicht am 20. Dezember 2004 - 10:24 Uhr
Beobachter: Wie kann es sein, dass uns ein ungeschnittener Ast an Nachbars Baum zur Weissglut bringt?
Peter Schneider: Das ist mir auch ein Rätsel. Aber ich glaube, jeder kennt Situationen und Stimmungen, in denen man ein kleines Missgeschick als eine ganz persönliche Kränkung empfindet. Dass einem der Vortritt am Fussgängerstreifen verweigert wird, dass das soeben gekaufte Joghurt schon verschimmelt ist, dass man ausgerechnet keinen Schirm dabeihat, wenn es regnet. Wenn man niemanden für die Kränkung verantwortlich machen kann, können solche an sich harmlosen Phänomene eine verhängnisvolle Eskalation erfahren. Man steigert sich mehr und mehr hinein, und jeder Versuch, die aus den Fugen geratene Gerechtigkeit wiederherzustellen, macht alles noch schlimmer. Kein Anlass ist so klein, dass man darin nicht eine allgemeine Verschwörung gegen sich sehen könnte.
Beobachter: Es braucht nicht immer zwei, um einen solchen Streit loszutreten. Was raten Sie dem Friedfertigen?
Schneider: Der Klügere gibt nach. Wenn der Nachbar meint, der herüberhängende Ast vereitle ihm sein Lebensglück, dann sollte man ihn absägen. Aber wenn der Nachbar jede Woche vor der Tür steht und wieder ein Blättchen hier und einen heruntergefallenen Apfel dort zu reklamieren hat, muss man dem eine Grenze setzen. Man kann nicht immer nachgeben in Dingen, in denen man sich nicht im Unrecht fühlt. Wenn man Glück hat, nützt es, dass man einmal streng sagt, nun reiche es aber. Wenn man Pech hat, sieht man sich vor Gericht wieder.
Beobachter: Hätte man den streitbaren Nachbarn vor 1000 Jahren einfach erschlagen?
Schneider: Ach, das glaube ich nicht.
Beobachter: Warum streiten wir eigentlich so oft mit unseren Nächsten?
Schneider: Eben weil wir denen am nächsten sind. Zum Streit gehört eine gewisse Nähe. Wo streitet man mehr als in der Familie?
Beobachter: Tierversuche zeigen: Bei einem Quadratmeter Lebensraum pro Maus lebt es sich friedlich. Wird es enger, werden die Nager aggressiv. Leben wir auf zu engem Raum?
Schneider: Tiervergleiche sind zwar illustrativ – ob sie aussagekräftig sind, ist fraglich. Aber natürlich, wenn man in der kanadischen Wildnis lebt und im Umkreis von 30 Kilometern keine Nachbarn hat, mit wem sollte man sich da über Gartenzäune streiten?
Beobachter: Vielleicht gibt es auch eine Lust am Streiten?
Schneider: Es gibt Leute, die diese Art von Auseinandersetzung lieben. Sie beziehen ihren Lebensinhalt aus Rechthabereien, der Streit wird zu einer Art Lebenselixier. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass man eine spielerische Streitlust entwickeln kann. Sie wird allerdings nicht von allen Mitmenschen geteilt. Zudem ist Streiten sehr zeit- und energieintensiv und kann zu Eskalationen führen, die das Leben zur Hölle machen.
Beobachter: Prozessieren kostet Geld. Ist Streiten ein Wohlstandshobby?
Schneider: Im Gegenteil. Wer sich etwas leisten kann, sollte auch besser etwas einstecken können. Aber es gibt sicherlich auch den Fall einer unangenehmen Paarung von reichlich vorhandenen finanziellen Mitteln und begeistertem Querulantentum.
Beobachter: Wahrscheinlich haben Nachbarschaftsstreitigkeiten schon manche Ehe gekittet.
Schneider: Oh ja. Aber das ist fatal. Wenn ein Streit mit den Nachbarn zum Ehekitt wird, gibt es kaum mehr Möglichkeiten, die Situation aufzubrechen.
Beobachter: Richter sagen, Nachbarschaftsstreitigkeiten seien nicht justiziabel, vielmehr müssten Psychologen ans Werk. Welche Diagnose würden Sie einem notorischen Streithammel ausstellen?
Schneider: Genau diese. Es gibt nun einmal Streithammel – dafür braucht es keinen vornehmeren Begriff. Und es gibt Leute, die ständig das Gefühl haben, zu kurz zu kommen, denen es an der Gabe mangelt, fünf einmal gerade sein zu lassen. Aber auch sonst Friedfertige, zu denen ich mich durchaus rechnen würde, sind nicht gefeit davor, wegen Kleinigkeiten in Rage zu geraten. Beliebte Anlässe liefert der Computer, der nicht so tut, wie ich will. Aber es lohnt sich nicht, wegen einer nicht funktionierenden Silbentrennung im Textverarbeitungsprogramm die ganze Nacht damit zu verbringen, einen Brief an Bill Gates zu formulieren und einen Boykottaufruf gegen Microsoft und die moderne technische Welt zu verfassen. Dann lässt man die Silben eben ungetrennt. Man wird es verkraften. Die Silben übrigens auch.