Eines Tages im Jahre 1793 klopft ein Fremder ans schwere Eingangstor von Schloss Reichenau. Schlossherr von Tscharner öffnet und bittet den Mann herein. Der Unbekannte sagt, er sei auf der Flucht und suche vorübergehend Arbeit. Von Tscharner, der ein Internat führt, nimmt ihn als Lehrer für Geometrie und Geografie auf. Während der folgenden Monate arbeitet der Fremde auf Reichenau und bewohnt eines der Zimmer im Gartenflügel, im Wirtschaftsgebäude des Schlosses. Was man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt: Es handle sich um den französischen Thronfolger Louis Philippe I., der seit der französischen Revolution im Exil lebe. Nach acht Monaten verlässt der Fremde sein Versteck auf Reichenau, 37 Jahre später wird er «Bürgerkönig» von Frankreich.

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Diese Begebenheit wurde in Reichenau von Generation zu Generation weitererzählt. Auch Gian-Battista von Tscharner, Nachkomme in vierter Generation des damaligen Herrn, erzählt die Geschichte gern. Von Tscharner verwaltet heute das Gut Reichenau. Zu seinen Aufgaben gehört es, den geschichtlichen Spuren des Schlosses Sorge zu tragen. Das Zimmer von Louis Philippe I. etwa ist heute noch grösstenteils im Originalzustand erhalten.

Doch von Tscharner verwaltet nicht nur: Er bewohnt das Schloss auch, mit seiner Frau und seinen drei Kindern.

Das Leben eines Schlossherrn – man stellt es sich königlich vor, wenn man vom Äusseren aufs Innere schliesst: Wie ein Bilderbuch-Sujet liegt das Gut Reichenau vor der Silhouette der Bündner Alpen, als Ensemble strahlend weiss verputzter Gebäude mit dunklen Ziegeldächern, zahlreichen Giebeln, Gauben und Türmchen.

Am Tor von Reichenau läuten heute jedoch keine Prinzen mehr. Dafür Schulklassen, Geschichtsstudenten und Touristen. Sie möchten sich zum einen das Schloss ansehen und zum anderen wissen, wie es sich in der heutigen Zeit darin lebt. Umso mehr staunen sie, wenn sich das Tor öffnet: Der Mann, der sie empfängt, trägt Jeans und ein Wollhemd und hat mit der landläufigen Vorstellung von einem Schlossherrn nicht viel gemeinsam. Man habe meist eine völlig falsche Vorstellung von seinem Leben, sagt von Tscharner. Viele würden ein Schloss mit Reichtum und einem Leben in Saus und Braus gleichsetzen. «Sehe ich denn aus wie ein Schlossherr?», fragt er schmunzelnd.

Ein Hauch von Grandezza
Trotzdem finden, wie schon vor Jahrhunderten, von Zeit zu Zeit grosse Anlässe im Schloss statt. Klassische Konzerte etwa oder Hochzeiten. Als von Tscharner seine Frau Anni vor 21 Jahren heiratete – die Trauung fand in der eigenen Kapelle und das Festessen im angrenzenden Schlosshotel Adler statt –, da ging es schon fast königlich zu und her. Und wenn Gian-Battista von Tscharner einmal im Jahr auf die Jagd nach Hirschen und Wildschweinen geht, fühlt er sich wie ein Monarch aus dem Märchen.

Doch das sind Augenblicke im Leben des Schlossherrn. Der Alltag: «Ein königliches Leben im Schloss Reichenau verhindern heute allein schon die hohen Unterhaltskosten.» Was für einen Einfamilienhausbesitzer absurd klingt, ist für die von Tscharners eine kostspielige Tatsache: Jährlich verbraucht das Gut zwischen 80'000 und 120'000 Liter Heizöl. Der Unterhalt der Dächer kostet bis zu 30'000 Franken, und nur bei Schnee- oder Hagelschäden zahlt die Gebäudeversicherung. Womit man beim nächsten Problem wäre: Wie versichert man ein Schloss? Die Versicherung darf nicht so ausgelegt sein, dass man im Brandfall alles wieder aufbauen könnte. «Das würde die Prämie in eine Höhe treiben, die finanziell völlig unsinnig wäre», sagt von Gian-Battista von Tscharner.

Grössere Renovationsarbeiten fallen glücklicherweise momentan nicht an. Da hat Ursula von Tscharner vorgesorgt, Gian-Battistas Mutter, die vor 30 Jahren das Schloss in grossem Stil instand setzte und den Wohnbereich dem heutigen Komfortstandard anpasste. Geld vom Staat hat sie dafür damals keines bekommen, da sie sich gegen eine Unterschutzstellung des Schlosses entschieden hatte. Ansonsten hätte ihr die übliche Beteiligung der öffentlichen Hand für Totalumbauten von geschützten Häusern zugestanden: 15 Prozent, jedoch höchstens 40'000 Franken. «Das wäre bei der Höhe der Renovationskosten für Schloss Reichenau eine lächerliche Summe gewesen», sagt von Tscharner. «Und es hätte einen grossen Nachteil mit sich gebracht: Denkmalschutz bedeutet öffentliches Betretungsrecht, und das wäre der erste Schritt zur Enteignung.» Da habe man lieber so viel wie möglich selbst gemacht.

So erklärt sich auch die wenig adelige Kleidung des Schlossherrn: von Tscharner packt mit an. Hemd und Krawatte wären da die falsche Arbeitskleidung. So müssen rund 70 Räume sauber gehalten werden – eine Knochenarbeit, die früher Bedienstete erledigten. Und seit zwei Jahren gibt es auf Reichenau nicht einmal mehr einen Gärtner für den zwei Hektar grossen Park. Da muss die Schlossfamilie eben selbst Hand anlegen. «So ein Schloss ist ein Hundert-Prozent-Job und dazu eine Lebensaufgabe», sagt von Tscharner.

Neben der körperlichen Arbeit ist beim Schlossherrn aber auch die geistige gefragt: In unzähligen Stunden ordnet und pflegt er den Nachlass seiner Ahnen. In den grossen Schubladen des Archivs stapeln sich Briefe und Dokumente von ehemaligen Schlossbesitzern, deren Freunden und Angehörigen. Von Tscharner weiss zahlreiche Anekdoten über sie und erkennt die Schreiber der meisten Briefe an der Schrift. «Das Schloss und seine Geschichte sind eben meine Leidenschaft», sagt er.

Dass diese Leidenschaft anstrengend sein kann, bestätigt Anni von Tscharner: «Jedes Jahr zu Weihnachten wünsche ich mir von meinem Mann ein normales, ruhiges Leben in einem Einfamilienhäuschen», sagt sie lachend. Ernsthaft könnte sich aber niemand aus der Familie einen Wegzug aus Schloss Reichenau vorstellen. Zu sehr fühlen sie sich mit dem Haus verbunden. Trotzdem haben sie sich eine Rückzugsmöglichkeit geschaffen. Ihr privates Refugium innerhalb des Schlosses besteht aus acht Zimmern, Küche und Bad im Haupthaus – geradezu enge Wohnverhältnisse, gemessen an der Grösse des Schlosses.

Ganz normal – und doch anders
Das eine oder andere Möbelstück erinnert hier an vergangene Jahrhunderte. Und wenn es im Winter richtig kalt ist, werden die hohen Räume nicht viel wärmer als 17 Grad. Im Zimmer der 17-jährigen Tochter Francesca sind es die Stuckdecke und ein schmuckvoller Kronleuchter, die verraten, dass sie in einem Schloss wohnt. Ansonsten sieht es aus wie in jedem Zimmer eines Teenagers: Das Poster der Lieblingsband hängt an der Wand, auf dem Boden liegen Schultasche, Kleider, Briefe. «Unsere Kinder sollen ganz normal aufwachsen können, wie ihre Schulkameraden auch», erklärt die Mutter. Mit kleinen Ausnahmen selbstverständlich. Dazu gehören etwa Geburtstagspartys am eigenen Swimmingpool im Schlosspark.

Ob wohl eines der Kinder dieses Leben im Schloss mit all seiner Arbeit, seinen Vor- und Nachteilen einmal weiterführen wird – das fragen sich die von Tscharners manchmal schon. Schön wäre es, und ein Besitzerwechsel würde wehtun. Doch erzwingen könne man es nicht, sagen die beiden Eltern. Den Sohn hat man immerhin durch die Namensgebung etwas unter Druck setzen können: Wie alle männlichen Nachkommen taufte man ihn auf den Namen des ersten von Tscharner in Reichenau – nach Johann Baptista, dem Schlossbesitzer, der einst Louis Philippe I. aufgenommen hatte. So reiht sich der heute 15-jährige Johann Baptista von Tscharner perfekt in die Kette der Reichenauer Schlossherren. Adel verpflichtet immer noch.