Schimmelpilz fühlt sich zu Hause
Das Minergie-Label bürgt für Häuser mit tiefem Energieverbrauch und verspricht ein Plus an Lebensqualität. Die Realität der Bewohner sieht jedoch oft anders aus.
Veröffentlicht am 10. Mai 2004 - 09:58 Uhr
Die Überbauung an beneidenswerter Südhanglage im Aargau ist mit besonderen Ehren bedacht worden: mit dem Minergie-Label für «tiefen Energieverbrauch und mehr Lebensqualität», wie es feierlich auf dem vom Baudepartement des Kantons Aargau verliehenen Zertifikat heisst. Das Label bezweckt, Häuslebauern trotz anfänglichen Mehrinvestitionen die langfristigen finanziellen Vorteile der Energiesparbauten schmackhaft zu machen.
Ganz andere Erfahrungen machten Agnes und Dieter Blust, die 2001 eines der fünf Häuser bezogen: Die tatsächlichen Kosten für den Energieverbrauch liegen dreimal höher, als der Verkäufer versprochen hatte. Stutzig gemacht hat die Hauskäufer vor allem die Tatsache, dass im Winter der Schnee auf ihrem Dach besonders schnell schmilzt – ein untrügliches Zeichen für Verlust an Wärmeenergie. Dabei ist eine gute Wärmedämmung das A und O der Minergie-Bauweise, nach der bereits zehn Prozent der Neubauten in der Schweiz ausgeführt werden.
Im Haus Blust macht sich im Innern nicht die amtlich bescheinigte Lebensqualität, sondern Schimmelpilz breit. Weil der Kellerraum ohne jede Wärmedämmung erstellt wurde und durch eine undichte Tür feuchte Luft aus dem Obergeschoss einströmt, kondensiert im Untergeschoss die Luftfeuchtigkeit – ein idealer Nährboden für Schimmelpilze. Durch die Lüftungsanlage finden die Schimmelpilzsporen den direkten Weg in die oberen Wohnräume und in die Kinderzimmer. Für Familie Blust mit zwei kleinen Kindern eine Zumutung.
Schwarzer Peter wird herumgereicht
«Wenn wir könnten», sagt Agnes Blust, «würden wir das Haus am liebsten wieder verkaufen.» Ein Expertengutachten bestätigte den Verdacht, dass geschummelt wurde. Die Wärmedämmung am Dach stimmt nicht mit den Plänen überein, die zur Minergie-Zertifizierung des Gebäudes eingereicht wurden.
Trotzdem erklärte sich das Aargauer Baudepartement, welches das Label ausgestellt hatte, für nicht zuständig. Werner Leuthard, Chef der Fachstelle Energie, schrieb Familie Blust, sie müsse die Probleme mit dem Lieferanten «bilateral lösen». Doch auch dieser macht es sich einfach und reicht den schwarzen Peter weiter: Marcel Baumgartner, Geschäftsführer der Baumgartner Immobilien AG und verantwortlicher Generalunternehmer, will die falsch ausgeführte Wärmedämmung bei den Dachlukarnen erst im Nachhinein bemerkt haben. Und die verpfuschte Lüftungsanlage schiebt er dem Sanitärinstallateur in die Schuhe: «Ihm ist der Fehler unterlaufen, denn er hat die Lüftungskanäle in den Keller geführt.»
Immerhin erklärt sich Baumgartner – der seine Firma neuerdings Ass-Oekohaus nennt – bereit, die Behebung dieses Mangels zu organisieren. Nachdem sich der Beobachter eingeschaltet hat, handelt endlich auch der Verein Minergie. Geschäftsführer Franz Beyeler beauftragt den Leiter seiner Bauabteilung, innerhalb von 14 Tagen einen Lösungsvorschlag auszuarbeiten – eine Frist, die allerdings ohne Ergebnis verstrichen ist. Beyeler beteuert, die Angelegenheit sei kein Indiz für ein generelles Problem des hochgelobten und in der Baubranche heftig angepriesenen Minergie-Modells: «Es hapert an der Ausführung auf der Baustelle, sie erweist sich oft als mangelhaft», erklärt er.
Beachtliche Mängellisten
Der eigentliche Haken an der Sache ist das Zertifizierungsverfahren: Denn bereits die Planunterlagen und eine theoretische Berechnung durch den Architekten oder Ingenieur reichen aus, um ein Haus mit dem Qualitätszeichen Minergie zu schmücken. Zwar verlangt der Verein Minergie, dass mindestens zehn Prozent der Gebäude einer Überprüfung vor Ort unterzogen werden. Bei der Durchführung der Kontrollen hapert es indes gewaltig; je nach Kanton und Gemeinde bleiben selbst Stichproben reine Theorie. «Anscheinend kann jeder Unternehmer geschönte Unterlagen einreichen und kommt zum Zertifikat», stellt Hauskäuferin Agnes Blust fest, die sich betrogen fühlt.
Die Mängelliste unzufriedener Minergie-Hauskäufer ist beachtlich:
- Ebenfalls nicht funktionstüchtig war die Belüftungsanlage einer Genossenschaftssiedlung in Dürnten ZH. «Falsche Materialwahl und eindringendes Wasser zwangen zu einer aufwändigen Sanierung, die 50'000 Franken gekostet hat», sagt Jean-Pierre Kuster von der Genossenschaft Gewo. Über die hohen Bau- und Betriebskosten des Minergie-Standards sei er nicht richtig informiert worden. Kusters Fazit: «Minergie steckt noch in den Kinderschuhen.»
- Bei einem Einfamilienhaus bei Thun wiesen die Lüftungskanäle einen «Kurzschluss» auf – die verbrauchte Luft wurde nicht ins Freie abgeführt, sondern in einem endlosen Kreislauf im Inneren des Hauses umgewälzt.
- Bewohner einer grossen Minergie-Überbauung in Wallisellen klagten über Kälte im Winter, über stickige Luft und ernsthafte gesundheitliche Probleme.
- In zwei anderen Fällen gipfelte der Pfusch darin, dass die «Frischluft» im Treppenhaus einer Tiefgarage oder bei einem Abstellplatz für Motorräder angesaugt wurde – die giftigen Abgase gelangten direkt in die gute Stube.
Heini Glauser, Energieingenieur und Präsident von Greenpeace Schweiz, will sich nicht grundsätzlich gegen Minergie äussern: «In Sachen Energiesparen hat das Label sicher Verdienste erworben. Entscheidend ist nun vor allem die Verbesserung der Kontrollen.» Auf die Frage, warum sich Minergie allen Mängeln zum Trotz habe etablieren können, antwortet Glauser: «Vor allem dank der Förderung durch die Kantone und die Stromlobby.»
Die Stromwirtschaft, die Kantone und ihre Elektrizitätswerke rechnen in ihren Minergie-Informationen vor, was sich an Gas oder Öl sparen lässt. Technische Schwierigkeiten oder der höhere Strombedarf eines Minergie-Hauses werden dabei weitgehend ausgeklammert und die strombetriebenen Lüftungsanlagen und Wärmepumpen wärmstens empfohlen.
Viele Bauherren und Hauskäufer sitzen dem Irrtum auf, sie würden mit Minergie Ökologie und Nachhaltigkeit einkaufen. Architekt Rolf Nydegger stellt klar: «Es handelt sich um ein reines Energiespar-Label. Über die Wahl ökologischer Baustoffe oder Ökologie bei der Bauausführung sagt es nichts aus.»
Enttäuscht über das Minergie-Label
Hansruedi Preisig, Architekt und Experte für nachhaltiges Bauen, nimmt Anstoss an der Praxis des Vereins Minergie, einzelne Produkte und Bauteile zu zertifizieren: «Vom Wärmedämmwert einer Wand- oder Dachkonstruktion auf die Lebensqualität zu schliessen geht zu weit.» Zudem sind einzelne Gebäudekomponenten ein völlig untaugliches Mittel, um den Gesamtenergieverbrauch zu reduzieren. Doch diese Einwände bringen den Verein Minergie nicht von seinem Vorgehen ab – denn schliesslich geht es darum, sich mit der Zertifizierung von Bauprodukten neue Geldquellen zu erschliessen.
In den Genuss willkommener finanzieller Vorteile kommt nebenbei auch das Gewerbe. Der Minergie-Standard sieht ausdrücklich vor, dass ein Minergie-Haus bis zu zehn Prozent mehr kosten darf als ein konventionelles Gebäude. Umso bitterer, wenn dieser Aufpreis in erster Linie Frust erzeugt. Hauskäufer Dieter Blust hat die Untätigkeit des Kantons und des Vereins Minergie am meisten enttäuscht: «Da werden zwar Zertifikate für Häuser ausgestellt, aber wenn es nicht funktioniert, scheint das die zuständigen Stellen nicht zu interessieren.» Er habe geglaubt, das Minergie-Label habe Hand und Fuss. Aber der Glaube daran sei «zerplatzt wie eine Seifenblase».