13_00_bp_quer.jpgTicks und Marotten haben wir alle. Und die meisten kennen den Drang, durch Nachkontrollen das Gefühl von Sicherheit und innerer Ruhe zu erhalten: Ist der Herd auch wirklich aus? Die Haustür abgeschlossen? Auch zwanghafte Gedanken sind den meisten nicht fremd: Wer kennt nicht das Gefühl vom lästigen Ohrwurm, den man am Morgen im Radio gehört hat und kaum mehr vergessen kann? Oder das quälende Suchen nach einem entfallenem Namen?

Für schätzungsweise 200000 Menschen in der Schweiz sind zwanghafte Rituale mehr als nur ein Spleen. Sie sind ihren ständig wiederkehrenden Gedanken machtlos ausgeliefert. Wie eine Zecke setzen sie sich im Kopf der Betroffenen fest und zwingen sie zu den absurdesten Handlungen. Für viele Zwangserkrankte endet die Spirale in sozialer Isolation, in Alltagsuntauglichkeit und schliesslich in der totalen psychischen und physischen Erschöpfung.

Die Sklaven ihrer Gedanken

Zwangsgedanken sind für Aussenstehende kaum erkennbar, für Betroffene aber eine quälende Tortur. Da wäre etwa der junge Mann, der ununterbrochen den Satz «Der Herrgott wirds schon richten» denken muss, obwohl er nicht religiös ist. Oder die Mutter, die ständig von Gedanken wie «Ich könnte mein Baby aus dem Fenster werfen» heimgesucht wird, obwohl sie ihr Kind abgöttisch liebt. Jenes Mädchen, das jedes Mal eine komplizierte Zahlenkombination aufsagen muss, bevor es über eine Türschwelle gehen kann, und der Banker, der ständig alles zählen muss: Fenster, Autos, Buchstaben, Bodenplatten und die Fugen dazwischen .

«Die Gedanken sind frei», sagt man. Für Zwangskranke ist das Bonmot von quälender Wahrheit: Ihre Gedanken haben eine Macht erhalten, die die Betroffenen zu Sklaven macht. Ihnen den Gehorsam zu verweigern scheint den Zwangskranken unmöglich. Sie sind der Uberzeugung, dass Unheil über sie oder nahe stehende Menschen hereinbricht, wenn die selbst auferlegten Regeln nicht befolgt werden.

Bizarre Taten, klares Bewusstsein

Sozial auffälliger sind die Zwangshandlungen. Verbreitet ist der Putzzwang, der Frauen zwingt, ihre Wohnung nicht nur sauber, sondern klinisch rein und absolut keimfrei zu halten. Geputzt wird sechs, acht und mehr Stunden pro Tag und oft auch in der Nacht – mit Scheuermitteln, Sprit und Desinfektionsprodukten. Auch der Waschzwang mit dauerndem Händewaschen oder Duschen ist unter Zwangsneurotikern verbreitet. Und dann gibt es noch die «Ordner», die stundenlang sortieren und Schuhe, Hemden, Konservenbüchsen oder Bürogegenstände symmetrisch und akribisch genau ausrichten.

Menschen, die an einem Kontrollzwang leiden, können Kühlschranktüren bis zu hundertmal öffnen und wieder schliessen, weil sich das Gefühl, «er ist wirklich zu», einfach nicht einstellen will. Sie öffnen x-mal einen Briefumschlag, nur um zu sehen, ob der Brief auch drin ist; oder sie betätigen unaufhörlich den Lichtschalter, um durch den Kontrast zwischen Hell und Dunkel irgendwann die Sicherheit zu erhalten, dass «aus» auch garantiert «aus» ist.

Anders als Menschen mit Wahnvorstellungen erleben Zwangskranke ihr bizarres Denken und Handeln bei vollem Bewusstsein. Sie wissen um die Absurdität ihrer Krankheit, und die Symptome sind ihnen peinlich. Deshalb wird die Zwangsstörung oft auch die «verschwiegene Krankheit» genannt. Bezeichnenderweise gibt es in der Schweiz nur eine einzige Selbsthilfegruppe. Aber selten ist diese psychische Störung nicht – nur selten richtig diagnostiziert.

Hansruedi Ambühl, Psychotherapeut und leitender Psychologe an der Psychotherapeutischen Praxisstelle der Universität Bern, hat sich auf Zwangsstörungen spezialisiert. Er weiss, dass sich die meisten seiner Patienten nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Druck von Angehörigen für eine Verhaltenstherapie entscheiden. «Die Krankheit ist gleichermassen anstrengend wie demütigend», sagt Ambühl. «Anders als etwa Depressive stossen Zwangskranke selten auf Mitgefühl und Fürsorge, sondern auf Irritation und Ablehnung.» Mit Appellen wie «Lass doch den Blödsinn einfach sein» ist den Betroffenen genauso wenig geholfen wie mit rationalen und vernünftigen Argumentationen.

Zwangsstörungen entwickeln sich häufig schleichend. An ihrem Anfang, so Ambühl, stünde häufig ein schockierendes Erlebnis oder eine kritische Lebenssituation. Um die nicht verarbeiteten Emotionen zu binden, flüchten Zwangskranke in ihre Rituale. «Sie werden zu vermeintlichen "Hilfen", um Ängste zu reduzieren, Depressionen in Schach zu halten oder angestaute Aggressionen zu dämpfen.» Doch diese Art von «Problemlösung» ist trügerisch und zeigt Parallelen zur Sucht: Die innere Entspannung hält nicht lange an und muss in immer kürzeren Abständen durch eine neue Zwangshandlung wiederhergestellt werden. Und irgendwo da ist auch die Grenze zwischen einer zwanghaften, aber normalen Marotte und einer psychischen Krankheit zu finden. Ambühl: «Wenn der Leidensdruck zu gross wird, Symptome überhand nehmen und sich das Netz von Zwängen immer enger um den Alltag schnürt, dann sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden.»

Die Kapitulation der Psychologen

Doch die zu bekommen ist gar nicht so einfach. Zwangsstörungen werden zwar seit rund 100 Jahren nicht mehr einfach in den Topf der Psychosen oder Depressionen geworfen, sondern als eigenständige psychische Krankheit definiert. Vor ihrer Behandlung schrecken aber noch heute viele Psychologen und Therapeuten zurück. «Diese Krankheit stellt selbst für professionelle Helferinnen und Helfer eine so grosse Herausforderung dar, dass sie schon im Voraus kapitulieren», bedauert Ambühl, der von einem wahren «Experten-Notstand» spricht.

Dieses therapeutische Zaudern ist fatal für die Betroffenen und ihre Angehörigen, die oft zu Mitopfern werden. Dabei kann zwangserkrankten Menschen durchaus geholfen werden. Teilweise verschaffen Medikamente Erleichterung, die auf ähnlichen neurobiologischen Erkenntnissen beruhen, wie sie bei der Behandlung von Depressiven genutzt werden.

Die effizientesten Resultate aber wurden mit Verhaltenstherapien erzielt. Dabei werden die Patienten mit Zwang auslösenden Reizen konfrontiert – etwa eine Klobrille mit blossen Händen anzufassen – und anschliessend daran gehindert, dem ausgelösten Zwangsimpuls – zum Beispiel die Hände waschen zu müssen – nachzugeben.

«Heilung ist möglich», sagt Hansruedi Ambühl, «aber auch Rückfälle sind häufig.» Die meisten Patienten sind aber nur schon dankbar, wenn sie ihren «inneren Despoten» so weit in Schach halten können, dass sie einem einigermassen normalen Leben nachgehen können.

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Dieser Beitrag erscheint in Zusammenarbeit zwischen Beobachter und Fernsehen DRS. Redaktionelle Verantwortung: Balz Hosang und Monika Zinnenlauf

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