«Erst in diesem Jahr fand ich den Beweis, dass es illegal war, mich als 18-Jährige zur Erziehung ins Gefängnis zu stecken», erzählt Magdalena Ischer. Im Berner Staatsarchiv stiess die heute 60-Jährige auf einen Brief aus dem Jahr 1968. Darin schreibt der Berner Polizeidirektor dem Justizdirektor, dass es unrechtmässig war, Ischer mehr als ein Jahr in der Strafanstalt Hindelbank zur Erziehung festzuhalten.

Ischer ist eine von Zehntausenden von Frauen und Männern in der Schweiz, die ohne Gerichtsurteil von Vormundschaftsbehörden in Straf- und Erziehungsanstalten gesteckt wurden – eine sogenannt administrativ Versorgte (siehe nachfolgende Hintergrundsinfo «Administrativ Versorgte: Bern will sich entschuldigen»). «Die Akteneinsicht ist für mich persönlich und für den Kampf um Rehabilitierung ungeheuer wichtig», sagt sie. Doch nicht nur die administrativ Versorgten sind auf ihre Dossiers angewiesen – auch die Zwangssterilisierten, Verdingkinder und Zwangsadoptierten brauchen die Akten, um zu belegen, wie die Behörden bis Anfang der 1980er Jahre mit ihnen umgesprungen sind.

Magdalena Ischer hatte Glück, denn der Kanton Bern hat 2500 Dossiers von administrativ Versorgten vernichtet; nur 207 sind im Archiv noch vorhanden. «Erst Anfang der 1980er Jahre haben sozialgeschichtlich interessierte Berner Archivare den Wert dieser Akten erkannt», sagt die Historikerin Tanja Rietmann, welche die Dossiers wissenschaftlich bearbeitet. «Die Unterlagen sind für die historische Forschung von unschätzbarem Wert.» Bisher ist die Geschichte des Vormundschaftswesens in der Schweiz nämlich kaum aufgearbeitet.

Und jetzt droht die Gefahr, dass solche Akten massenhaft im Schredder landen: Bis 2013 werden Hunderte von kommunalen Vormundschaftsämtern aufgehoben, weil nicht mehr die Gemeinden, sondern neu zentrale Behörden für diese Aufgaben zuständig werden. Im Kanton Bern zum Beispiel müssen mehr als 260 Vormundschaftsbehörden schliessen, im Kanton Zürich sind es rund 150. Bei dieser epochalen Umorganisation werden auch die entsprechenden Gemeindearchive aufgehoben.

Um zu verhindern, dass dabei Unterlagen unwiederbringlich verschwinden, handelt nun der Berner Justizdirektor Christoph Neuhaus (SVP): «Wir weisen die Gemeindebehörden an, die entsprechenden Akten bis auf weiteres aufzubewahren.» Die SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr will sicherstellen, dass auch andere Kantone die nötige Vorsicht walten lassen. In einem Brief an die Konferenz der kantonalen Sozialdirektoren sowie der Justiz- und Polizeidirektoren fordert sie, dass die Vormundschaftsakten vor der Vernichtung geschützt werden, «so dass sie auch künftig den Betroffenen und der Forschung zugänglich sind».

Zumindest in der Stadt Zürich rennt sie damit offene Türen ein: Dort werden – europaweit einzigartig – seit 100 Jahren sämtliche Vormundschaftsakten archiviert. Inzwischen sind es Zehntausende von Schachteln, die, würde man sie nebeneinanderstellen, eine Reihe von 2,2 Kilometer Länge ergäben.

Administrativ Versorgte: Bern will sich entschuldigen

Hunderte von administrativ Versorgten können auf eine späte Rehabilitierung hoffen: Der Berner Justizdirektor Christoph Neuhaus prüft eine Entschuldigung bei jenen Menschen, die bis 1981 ohne Gerichtsurteil zur Erziehung in Berner Straf- und Erziehungsanstalten gesperrt wurden. Ein entscheidendes Hindernis wurde ausgeräumt: Neuhaus’ Rechtsdienst konnte versichern, dass der Kanton keine Angst vor Staatshaftungsklagen haben muss, falls er sich entschuldigt – allfällige Ansprüche sind definitiv verjährt.

Doch der Kanton Bern will vorerst nicht im Alleingang vorgehen. Derzeit suchen nämlich die kantonalen Konferenzen der Sozialdirektoren sowie jene der Justiz- und Polizeidirektoren, die Vormundschaftskonferenz und das Bundesamt für Justiz gemeinsam nach einer Lösung. Bereits haben sich Vertreter dieser Behörden ein erstes Mal getroffen. Als Nächstes sollen nun die Betroffenen einbezogen werden.