Eine Prachtstrasse im Pariser Diplomatenviertel. Avenue Kléber. Links und rechts Botschaften und Konsulate, auf den Trottoirs promenieren in gutes Tuch gekleidete Leute. Mittendrin Bernadette Gächter aus Altstätten SG. «Dass mir das passiert!», sagt sie. «So hoch hinaus!» Die kaufmännische Sachbearbeiterin kommt vom Mittagessen mit Liliane Maury Pasquier, Schweizer Ständerätin, Präsidentin des Sozialausschusses des Europarats, und ist auf dem Weg zur Anhörung vor Europaparlamentariern.

1972 lag Bernadette Gächter unter Operationstüchern im St. Galler Kantonsspital. Sie war 18 Jahre alt. Der Arzt kratzte das Kind aus ihrer Gebärmutter und durchtrennte die Eileiter. Gegen ihren Willen. Aber legitimiert durch ein Gutachten von Fred Singeisen, Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Wil. Dieser beschrieb Gächter als «schwer psychopathisch» und «geistesschwach» und bezeichnete die «Sterilisation aus eugenischen Gründen» als «sehr erwünscht» – also um das Erbgut der Bevölkerung zu «verbessern».

Bernadette Gächter wurde zwangssterilisiert. Wie Erika Benz (siehe Nebenartikel) und Tausende weitere Betroffene in der Schweiz. Vor einem Jahr holte der Beobachter ihre vergessenen Schicksale ans Licht (siehe Artikel zum Thema «Administrativ Versorgte: Ein dunkles Kapitel»). Und jetzt der grosse Auftritt.

«Wenn ich Mütter mit Kindern sah, tat das schrecklich weh», sagt Gächter ins Mikrophon im innersten Oval des Anhörungszimmers des Europarats in Paris. «Und wenn ich heute Grossmütter mit ihren Enkelkindern sehe, schmerzt auch das.» Simultan übersetzt in Englisch, Französisch, Russisch, Spanisch, Italienisch und Ungarisch. Europaparlamentarier aus 20 Ländern hören zu.

Erika Benz: «Der Vormund versprach mir einen Ausflug. Doch er fuhr mich in die psychiatrische Klinik.»

Quelle: Stephan Rappo

In der Schweiz schenkte Bernadette Gächter lange Zeit keine einzige Politikerin und kein einziger Politiker Gehör. 2004 verwarf das Parlament ein Gesetz zur Rehabilitierung der Zwangssterilisierten. Deshalb müsse man auch heute nichts zur Wiedergutmachung unternehmen, teilte das Bundesamt für Justiz der Betroffenengruppe noch im Februar dieses Jahres mit.

Dennoch schrieben die beiden Betroffenen Bernadette Gächter und Erika Benz einen Brief an Justizministerin Simonetta Sommaruga. Erstmals erhielten sie eine Antwort, die Hoffnung machte. Sommaruga will das Leiden der Zwangssterilisierten offiziell anerkennen. Damit wird eine Entschuldigung greifbar. Genau wie bei den Verdingkindern, bei denen sich der Bundesrat Anfang 2012 entschuldigen will.

Damit setzt die Justizministerin die Praxis ihrer Vorgängerin Eveline Widmer-Schlumpf fort, die sich vor einem Jahr bei den administrativ Versorgten offiziell entschuldigte. Auch die historische Aufarbeitung der administrativen Versorgungen, Zwangssterilisationen, des Verdingkinderwesens, der Misshandlungen in Heimen und Zwangsadoptionen kommt voran (siehe Nebenartikel «Was bisher erreicht wurde»).

Endlich geht also etwas für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Aber fast nur auf symbolischer Ebene. Wenns ums liebe Geld geht, wirds harzig.

Der Bauer nannte ihn nur «Schofseckel»

Briefe verschickt Paul Pfenninger grundsätzlich keine. Er geht immer persönlich vorbei. So auch im Oktober 2010 auf der Gemeindeverwaltung von Oberwil-Lieli AG. Er hat eine Kopie des Schlussberichts seines Vormunds dabei, der 1965 an die Gemeinde Oberwil geschickt wurde, weil diese für das Mündel Pfenninger zuständig war. Darin steht, dass Pfenningers Sparheft Nr. 017642 einen Wert von Fr. 7100.60 ausweise. Ein weiteres Aktenstück belegt, dass das Sparheft an den Vormund ausgehändigt wurde. Nur: Pfenninger hat von seinem Geld nie auch nur einen Rappen gesehen. Dabei hat er es unter härtesten Bedingungen verdient. Bereits als Achtjähriger musste er als Verdingbub bei einem Bauern von morgens um fünf bis abends spät wie ein Knecht chrampfen. Am Sonntag wurde er nach der Morgenschicht in den Keller gesperrt – bis 16 Uhr, wenn der Abendstalldienst begann. Mit Namen wurde er nie angesprochen, immer nur mit «fuule Siech» oder «Schofseckel». Zustände, wie sie dem Spielfilm «Der Verdingbub» zugrunde liegen sowie in der Ausstellung «Verdingkinder reden» zu Dutzenden dokumentiert sind (siehe Box am Ende) und unter denen Zehntausende von Verdingkindern gelitten haben.

Heute ist Paul Pfenninger nicht mehr auf dieses Geld angewiesen. Der 66-Jährige war jahrelang Sanitärangestellter im Zürcher Triemli-Spital. Aber dass der Vormund, der ihn so im Stich gelassen hatte, auch noch sein Geld einsackte, kann er nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Er will es samt Zins und Zinseszinsen dem ehemaligen Kinderheim und heutigen Schulheim St. Johann im aargauischen Klingnau spenden. Dort hatte er vor der Verdingung in früher Kindheit seine glücklichste Zeit.

Hier hatte er seine glücklichste Zeit – bevor er als Achtjähriger an einen Bauern verdingt wurde: Paul Pfenninger vor dem damaligen Kinderheim St. Johann in Klingnau AG

Quelle: Stephan Rappo
Der Vormund isst, das Mündel zahlt

Die Gemeinde Oberwil-Lieli zeigt sich kulant. Der Gemeinderat spricht eine Spende von 15'000 Franken ans Klingnauer Schulheim. «Damit wollen wir unkompliziert ein Zeichen der Wiedergutmachung setzen, auch wenn der genaue Ablauf der Übergabe des Sparbüchleins nicht mehr geklärt werden kann und allfällige Ansprüche verjährt wären», sagt Vizeammann Ursula Gehrig.

Paul Pfenninger hat Glück gehabt. Andere Gemeinden tun sich schwerer. Das Thema der geplünderten Sparbüchlein zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählungen vieler Verdingkinder. «Vormunde bedienten sich oft schamlos beim Vermögen ihrer Mündel, um Auslagen zu decken – was gesetzwidrig war –, teilweise sogar, um sich persönlich zu bereichern», kritisiert der Historiker Marco Leuenberger, der solche und andere Beispiele im Rahmen eines wissenschaftlichen Projekts gesammelt hat. Ein Verdingkind zum Beispiel wurde vom Vormund regelmässig ins Restaurant mitgenommen. Pommes frites, Koteletts und Salat. Gegessen hat nur der Vormund. Gezahlt hat aber das Mündel, wie es später feststellen musste, als es sein Sparbüchlein ausgehändigt erhielt. Ein anderes Verdingkind bemerkte nach der Entlassung in die Mündigkeit, dass seine gesamte Erbschaft von 160'000 Franken vom Vormund ausgegeben worden war.

Deshalb sind grosszügige Spenden als symbolische Wiedergutmachung von einzelnen Gemeinden nur ein Tropfen auf den heissen Stein. Sie sind wichtig im Einzelfall, aber wenig hilfreich für die eigentliche Not, in die Verdingkinder und andere Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen oft geraten. Viele von ihnen sind heute zwischen 55 und 70 Jahre alt. Statt dass man ihnen in ihrer Kindheit und Jugend geholfen hätte, sperrte man sie ein und drangsalierte sie – wie etwa Rolf Horst Seiler, der von der Gesellschaft ausgegrenzt wurde und 40 Jahre lang im Wald lebte (siehe Porträt im Nebenartikel).

Rolf Horst Seiler: «Auf Abfallhalden sammelte ich Flaschen. Vom Pfand kaufte ich mir Essen. 40 Jahre lang.»

Quelle: Stephan Rappo
Viele leiden unter psychischen Problemen

Sofern die Versorgten, Zwangssterilisierten und Verdingten nicht an ihrem Schicksal zerbrochen sind, haben sie jahrelang gekämpft – um der Gesellschaft zu beweisen, dass sie mehr taugen, als man ihnen in der Jugend einzureden versuchte. Sie haben nicht selten Karriere gemacht – viele von ihnen kämpfen aber mit psychischen Problemen, die auch auf die Verletzungen und Traumen ihrer Jugend zurückzuführen sind.

Hans-Jörg Klauser zum Beispiel wurde als Jugendlicher mehr als zwei Jahre lang in der Arbeitserziehungsanstalt Kalchrain TG weggesperrt, durchlief später lange Psychotherapien und machte schliesslich Karriere als Hundeführer bei der Polizei und der Sicherheitsfirma Protectas, wo er es bis zum stellvertretenden Sicherheitschef bei der Überwachung der Rüstungsfirma Contraves schaffte (siehe Porträt im Nebenartikel). Im Alter von 42 Jahren wurde er von seiner Vergangenheit eingeholt. Panikattacken und Angstzustände suchten ihn heim, Rheuma- und Rückenbeschwerden wurden unerträglich. Deshalb erhielt er 1998 eine IV-Rente von 1115 Franken monatlich, die aber im Rahmen der aktuellen Sparrunden Anfang 2011 widerrufen wurde. Der heute 58-jährige Klauser sei voll arbeitsfähig, meint die IV plötzlich und will ihm die Rente ganz streichen.

Das ist stossend, denn es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Staat für die gesundheitlichen Probleme Hans-Jörg Klausers und anderer Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen massgeblich mitverantwortlich ist. Bei Klauser kommen die Psychiatrischen Dienste Thurgau in einem Gutachten zum Schluss, dass «davon auszugehen ist, dass die Entmündigung und die langen Jahre in Kalchrain sein weiteres Leben beziehungsweise seine psychische Verfassung entscheidend mitgeprägt haben».

Hans-Jörg Klauser: «In der Erziehungsanstalt lernte ich, wie man Autos knackt und Ähnliches.»

Quelle: Stephan Rappo
Der Kanton Waadt geht voran

Der Staat hätte es in der Hand, die für viele Betroffene unhaltbare Situation zu verbessern: Das Bundesamt für Sozialversicherungen müsste die IV-Stellen anweisen, die Folgen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen in IV-Verfahren angemessen zu berücksichtigen. Und es braucht einen Härtefonds für Betroffene, die ganz durch das soziale Netz fallen.

Stadt und Kanton Bern haben Anfang 2011 einen solchen «Unterstützungsfonds auf nationaler Ebene» gefordert, aber danach nichts mehr unternommen, um ihn einzurichten. So bleibt der Eindruck, dass man die Umsetzung anderen Kantonen oder dem Bund überlassen will.

Dass es auch schnell und unkompliziert gehen kann, zeigt hingegen der Kanton Waadt. Dort wird die Regierung in Kürze einen Härtefonds verabschieden, der Opfer von Kindswegnahmen und Zwangsadoptionen unterstützt, die sich in finanzieller Not befinden.

Wiedergutmachung, aber richtig!

Es ist höchste Zeit, den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen zu helfen. Folgende Beobachter-Forderungen sind noch nicht erfüllt.

1. Der Staat muss sich bei allen entschuldigen
Bisher hat sich der Bundesrat bei den administrativ Versorgten entschuldigt und plant dasselbe für Verdingkinder. Es braucht aber auch eine Entschuldigung des Parlaments, der obersten Gewalt der Schweiz, und das bei allen Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen.

2. Es braucht einen Härtefonds für Betroffene
Bund, Kantone und Gemeinden sollten zur Wiedergutmachung einen Fonds äufnen, der Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen unterstützt, wenn sie in finanzielle Not geraten. Wichtig ist auch, dass die IV-Stellen anerkennen, dass der staatlich ausgeübte Zwang zu Invalidität im Alter führen kann.

3. Eine Anlaufstelle soll Betroffenen helfen
Viele Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen brauchen psychologische Unterstützung, Hilfe bei der Suche nach ihren Akten, im Umgang mit den Sozialversicherungen. Der Bund oder die Sozialdirektorenkonferenz sollten eine Anlaufstelle einrichten.

4. Die Akten gehören den Opfern
Viele Gutachten über «psychopathische» oder «arbeitsscheue» Menschen schlummern noch in Anstalten und bei Behörden. Sie können noch immer Auswirkungen haben. Daher müssen Betroffene Zugang zu ihren Akten haben, diese berichtigen und allenfalls aus dem Verkehr ziehen können.

5. Es braucht Geld für historische Aufarbeitung
Die historische Aufarbeitung muss umfassend und organisiert erfolgen. Deshalb braucht es ein Programm für die Erforschung der Sozialpolitik in der Schweiz bis in die achtziger Jahre, vergleichbar mit dem Bergier-Bericht zur Schweiz im Zweiten Weltkrieg.

6. Ein Kapitel in den Schulbüchern
Die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen der Sozial- und Vormundschaftsbehörden gehört in die Dauerausstellung des Landesmuseums und in die Schulbücher.