Mittwochmorgen, halb neun Uhr, ein Unort am Rand von Wallisellen ZH: Eingeklemmt zwischen einer Transportfirma, einem Autohändler und der Autobahn, steht die Dock Zürich AG. Im grossen Fabrikraum herrscht konzentrierte Geschäftigkeit. Die Arbeiter sind daran, Gussteile für die Autoindustrie nachzubearbeiten, bevor sie nach Deutschland ausgeliefert werden. Alltag in einem ganz gewöhnlichen Betrieb? Nicht ganz. Hier sind Leute am Werk, für die es im «normalen» Arbeitsmarkt momentan keinen Platz hat. Und die ausschliesslich von der Sozialhilfe leben würden, bekämen sie hier nicht ein Salär, mit dem sie wenigstens einen Teil ihres Lebensunterhalts selber erwirtschaften können. Wer erst aus der Arbeitswelt gefallen ist und dann ausgesteuert wurde, landet vielleicht hier.

Dabei handelt es sich um eine private Sozialfirma, eine in der Schweiz relativ junge Einrichtung, die den Spagat zwischen betriebswirtschaftlichen und sozialen Zielen versucht und als erfolgversprechendes Modell für den Umgang mit Langzeitarbeitslosen gilt (siehe auch Interview im Nebenartikel: «Konsequent auf Produktivität ausgerichtet»). Der Walliseller Ableger der Dock-Gruppe erhält von den Sozialämtern der Stadt Zürich und umliegender Gemeinden Leute für sogenannte Teillohnjobs zugewiesen. Derzeit sind hier 125 Leute beschäftigt.

Sich aus der Sozialhilfe herausarbeiten

Fethi Kadid gehört zu ihnen. Er schleift eben die Kanten eines Gehäusedeckels rund. «An einem Tag machen wir zwei Paletten, das sind zwischen 2000 und 2400 Stücke», erklärt er stolz. Der 35-Jährige arbeitet seit fast zwei Jahren hier. Mit 20 wanderte der Algerier in die Schweiz aus und war hier als Ungelernter tätig, zuletzt als Flachdachisoleur. Verdient habe er unterschiedlich, an der letzten Stelle je nach Arbeitszeit bis zu 5000 Franken monatlich, sagt er. Vor vier Jahren wurde er wegen mangelnder Aufträge entlassen – und fand keine Arbeit mehr. Bis er bei Dock unterkam.

Die Zürcher Firma ist eines von vier Unternehmen der St. Galler Stiftung für Arbeit, die insgesamt rund 700 Personen beschäftigt – die schweizweit grösste derartige Einrichtung. Verlässliche Zahlen darüber, wie viele Stellen gesamthaft in privatwirtschaftlichen Sozialfirmen angeboten werden, gibt es nicht; dafür ist das Modell noch zu jung und die Abgrenzung zu anderen Beschäftigungsprogrammen im zweiten Arbeitsmarkt im Einzelfall oft unscharf (siehe Tabelle unten). Die Grundidee dahinter ist freilich immer dieselbe: Arbeit statt Sozialhilfe.

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Quelle: Gian-Marco Castelberg
Verschiedene Angebote für Arbeitssuchende

Sozialhilfeempfängern ohne Stelle wird ein Job angeboten, dank dem sie sich buchstäblich wieder aus der Sozialhilfe hinausarbeiten können. Ein dringliches Anliegen, denn die Zahl der Langzeitarbeitslosen stieg innerhalb der letzten zwölf Monate um 43 Prozent auf 21'000 Personen an, und jeden Monat werden rund 2200 Personen ausgesteuert. Die Dock Zürich AG schliesst mit den Zugewiesenen einen unbefristeten Arbeitsvertrag ab. «Wer zu uns kommt, hat nichts mehr zu verlieren. Hier kann jeder nochmals von vorn beginnen», sagt Geschäftsführerin Marjana Sigrist.

Die Menschen in der Firma kommen aus 25 Nationen, fast die Hälfte ist über 50 Jahre alt. Ihre Leistung wird mit einem Qualitätsmanagementsystem gemessen. Anfangs arbeiten alle in der Förderstufe mit einem Stundenlohn von zwölf Franken. Sobald sie eine bestimmte Leistung und Flexibilität erreichen, wechseln sie in die Integrationsstufe mit 14 Franken Lohn. Die dritte Stufe mit voller Leistungsfähigkeit entspricht den Anforderungen an einen Hilfsarbeiter in der freien Wirtschaft und wird mit einem Mindestlohn für Ungelernte von 3200 Franken entlöhnt.

«Wenn ich eine besser bezahlte Arbeit finde, würde ich gern eine Familie gründen»: Larbi Kouam

Quelle: Gian-Marco Castelberg
Ein Tag in der Woche zur Stellensuche

Fethi Kadid arbeitet erst seit kurzem auf dieser dritten Stufe. Er erzählt, dass er nach dem Eintritt in die Firma grosse Mühe damit gehabt habe, arbeiten zu müssen, ohne dass sich seine Situation als Sozialhilfeempfänger verändert hätte. «Ich arbeitete ja wie eine normale Person, nur mein Lohn war tiefer.» Im Moment erhält er für ein Arbeitspensum von 80 Prozent 2500 Franken. «Am liebsten würde ich voll arbeiten, um wieder ganz vom eigenen Geld leben zu können», sagt er. Doch das maximale Arbeitspensum in der Dock AG sind vier Tage pro Woche, damit Zeit für die Stellensuche bleibt.

Mehrmals kommt Kadid auf seine Zukunftsängste zu sprechen: «Ohne Berufsabschluss habe ich kaum Chancen, eine Dauerstelle zu finden, und muss immer wieder bei null anfangen.» Sein Wunsch wäre, noch eine Berufausbildung machen zu können. «Wieder zur eigenen Power finden», nennt Marjana Sigrist diesen Prozess. «Sobald dem Arbeitnehmer klar ist, dass er von sich aus initiativ werden muss, funktioniert es.»

Larbi Kouam durchlief die drei Leistungsstufen im Schnelltempo. Der 46-Jährige wurde im Juni dieses Jahres zugewiesen. Er kontrolliert, ob die Elektronikdeckel im Lot sind, dabei geht es um Zehntelmillimeter. Der gebürtige Marokkaner mit Schweizer Pass absolvierte bei Rieter eine Ausbildung als CNC-Operateur. Nach neun Jahren im Betrieb verlor er 2000 als Folge einer Reorganisation die Stelle. Darauf versuchte er, in Marokko eine eigene Firma aufzubauen, musste aber nach vier Jahren aufgeben. Zurück in der Schweiz, habe er zuerst ein halbes Jahr auf der Strasse gelebt, bis im Obdachlosenheim ein Platz frei wurde, erzählt er. «Eine schlimme Erfahrung!»

Ohne Unterstützung fand er nach zehn Monaten wieder Arbeit im Beruf – und wurde ein halbes Jahr später erneut «eingespart». Mit den 2800 Franken, die er heute bei Dock Zürich verdient, kann er knapp ohne Sozialhilfe leben; er muss nur für sich selber sorgen. «Wenn ich eine besser bezahlte Arbeit finde, würde ich gern eine Familie gründen», sagt er. Nachdem Kouam die dritte Leistungsstufe erreicht hat, ist er nur noch befristet angestellt: Er muss nun in maximal zwölf Monaten eine Stelle finden.

Einen Schmusekurs verträgt es nicht

Bisher gelang etwa jedem dritten Arbeiter die Rückkehr in den regulären ersten Arbeitsmarkt. Die kürzlich erschienene Studie «Ist Erwerbsarbeit für Sozialhilfebezüger ein Privileg?» zeigt, wie schwierig der Wiedereinstieg ist. In fünf Kantonen fanden von 1500 Sozialhilfebezügern innert vier Jahren knapp 30 Prozent eine Festanstellung, fast ebenso viele blieben arbeitslos und dauerhaft auf Sozialhilfe angewiesen (siehe Artikel zum Thema: «Sozialhilfe: Der Staat darf Menschen nicht völlig aufgeben»). Larbi Kouam hat gute Karten. Andere in der Firma schaffen gerade knapp ein Mindestpensum von 50 Prozent – und verdienen damit 1000 Franken. Von «1000-Franken-Jobs» war denn auch immer wieder die Rede, als vor wenigen Jahren die ersten Schweizer Sozialfirmen entstanden.

An diesem Morgen herrscht in der Dock Zürich AG Termindruck: Die Gussteile müssen um elf Uhr abholbereit sein. Da verträgt es keinen verständnisvollen Schmusekurs. Marjana Sigrist weist einen Mitarbeiter sehr direkt zurecht, als er eine Kiste ohne das Schild des erledigten Arbeitsgangs auf den Trolley laden will. Darum gehe es: um Genauigkeit und Zuverlässigkeit, so die Geschäftsführerin. Alles wie in einem ganz gewöhnlichen Betrieb eben. «Der direkte Umgang entlastet die Arbeitnehmer und zeigt ihnen, dass ihre Arbeit ernst genommen wird.» Es sei auch diese Normalität, die die Beschäftigten motiviere, ist Sigrist überzeugt. Pro Monat muss sie etwa zehn Kündigungen aussprechen. Gründe sind mehrmalige Unpünktlichkeit und unbegründete Absenzen. Oft verunmöglichen auch gesundheitliche Probleme eine Weiterarbeit.

«Sobald dem Arbeitnehmer klar ist, dass er von sich aus initiativ werden muss, funktioniert es»: Marjana Sigrist, Geschäftsführerin Dock Zürich AG.

Quelle: Gian-Marco Castelberg

Wie viele Sozialhilfeempfänger wieder in einer solchen Alltagsnormalität leben können, entscheidet zum Beispiel das Sozialdepartement der Stadt Zürich. In der Stadt sind 8500 Personen von Sozialhilfe abhängig, rund 30 Prozent von ihnen wären laut der Behörde arbeitsfähig. Doch der Stadt stehen in privat geführten Sozialfirmen nur gerade 240 Teillohnarbeitsplätze zur Verfügung.

Ein Ausbau sei dennoch nicht geplant, so die Departementssprecherin Christina Stücheli. «Nach der Aufbauphase muss nun zuerst die Position dieser Firmen im Arbeitsmarkt geklärt und politisch legitimiert werden», sagt sie. Zentral dabei ist die Diskussion um die Lohnhöhe: Die Wirtschaft fordert, dass nicht mit Billiglohnjobs Konkurrenz geschaffen wird, und die Gewerkschaften wollen, dass auch in Sozialfirmen GAV-Mindestlöhne gelten sollen.

Das zeigt: Eine junge Idee wird ernst genug genommen, um den Weg durch die Realpolitik anzutreten – immerhin das.

Weitere Infos

Stiftung für Arbeit (Dock-Gruppe): www.stiftungfuerarbeit.ch; Allgemeines zum Thema: www.sozialfirmen.ch