Blick ins erste Zimmer: wow! Blick ins zweite: unglaublich, grossartig. Blick ins dritte: fast schon unheimlich. Und ein bisschen bedrückend. Was war das für eine Frau? Was war das für ein Leben?

«Unfassbar, nicht?», sagt Elisabeth Joris. Die Historikerin und Autorin öffnet eine Tür nach der anderen, führt von Zimmer zu Zimmer. Sie kennt das Oberhaus der Familie Bühler in Feldbach ZH inzwischen wie ihr eigenes. Trotzdem entdeckt sie jedes Mal wieder Neues, wenn sie in all den Schränken, Truhen und Schubladen stöbert. Aus einem Regal zieht sie einen Stapel weisse Bettwäsche hervor. «Jahr 1830», steht auf dem Zettel. «Schauen Sie, wie kunstvoll der Saum bestickt ist! Reichtum hat man damals im Verborgenen gezeigt, nicht nach aussen.»

Ein Museum für sich allein

Das alte Weinbauernhaus am Ufer des Zürichsees ist einzigartig. Seit 300 Jahren haben seine Bewohnerinnen und Bewohner fast nichts weggeworfen. Bettgestelle, Kommoden, Truhen und Sofas von mehr als acht Generationen, alles ist noch da. Dazu Bücher, Gemälde und Schmuck. Damenkleider, Herrenhüte, Soldatenuniformen. Skier, Kinderwagen, Puppen. Bügeleisen, Kämme, Schuhputzbürsten. Pistolen, Spinnräder, Trottinette. Kistenweise Briefe. Schränke voller Wirtschaftsbücher. Über Jahrzehnte und Jahrhunderte wurden die Dinge irgendwo auf dem Estrich gehortet, in der Scheune deponiert oder in der Knechtekammer vergessen.

Die letzte Bewohnerin, Rosmarie Bühler-Wildberger, hat alles zusammengetragen, in jahrzehntelanger Arbeit geordnet und damit nach und nach jeden Raum bestückt. Am Schluss bewohnte sie nur noch drei Zimmer, den Rest des Hauses machte sie zum Museum. Ein Museum für sich allein – und ein Erbe für die Nachwelt.

«Ich hatte Angst, dass es mich und meine Familie auffressen könnte.»

Stefan Bühler, Sohn

Fünf Jahre sind inzwischen seit ihrem Tod vergangen. Elisabeth Joris, bekannt als Spezialistin für Frauengeschichte, nimmt im Estrich einen Damenstrohhut von einem Gestell. Darauf sind ein Dutzend weitere Hüte aus allen Epochen ausgestellt: Zylinder aus dem 19. Jahrhundert, Melonen wie die von Charles Chaplin, Baskenmützen aus der Nachkriegszeit. Im Raum daneben dasselbe mit Soldatenuniformen: von Napoleon bis zum Tarnanzug 90. In den Schränken finden sich aber auch Steuerunterlagen von 1740 bis 1990. Alles sortiert, alles geordnet, alles mit Zetteln beschriftet. «Eine solche Sammlung von Lebensspuren einer einzelnen Familie, kontinuierlich über drei Jahrhunderte, habe ich noch nie angetroffen», sagt Joris.

Stefan Bühler, der Sohn von Rosmarie Bühler-Wildberger, steht oben auf der Treppe, die vom Gutshaus in den Garten führt, und beobachtet die zwei Gemüsebauern, die dort Setzlinge einpflanzen. Der Blick schweift weiter über eine Wiese zum See, dahinter das Schloss Rapperswil und die Glarner Alpen. Hier ist er aufgewachsen, hier hat er gespielt, umgeben von einer Welt von gestern. «Wir durften mit all den alten Puppenhäusern oder den Trottinetten aber immer auch selber spielen», sagt der 54-Jährige.

Ein schweres Erbe

Als das Lebenswerk seiner Mutter in seine Hände fiel, wog es anfänglich schwer. «Ich hatte Angst, dass es mich und meine Familie auffressen könnte. Wir haben die Verantwortung für all diese Sachen, aber sie sollten nicht unsere Lebensaufgabe werden.» Er holte sich darum Hilfe von Fachleuten, Unterstützung vom Lotteriefonds und arbeitete einen Plan aus: In den drei oberen Stockwerken werden die «Lebensspuren» professionell kuratiert und mit Führungen für die Öffentlichkeit zugänglich. Die gesammelten Dokumente – über 60 Laufmeter – kommen ins Staatsarchiv des Kantons Zürich.

In den beiden unteren Stockwerken sind bereits drei Bed-and-Breakfast-Studios entstanden, die mit historischen Möbeln aus dem Familienerbe bestückt sind. Drei weitere sind im Bau. «Die Geschichte des Oberhauses mit all seinen historischen Gegenständen soll nicht nur zu sehen sein, sie soll auch erlebt werden können.»

«Erst das Arrangement macht den wirklichen Wert der Sammlung aus.»

Elisabeth Joris, Historikerin

Historikerin Elisabeth Joris hat das Haus intensiv erlebt. Zusammen mit ihrem Kollegen Martin Widmer hat sie ein Buch über «Mutters Museum» geschrieben, das Ende Oktober erscheint. Über Wochen und Monate haben die beiden das Haus durchwühlt, sind in alle Ecken gekrochen, haben Schubladen und Truhen durchforstet.

Harte Arbeit, doch für die Forscher ein Schlaraffenland. Etwa wenn sie auf die Liste stiessen, wer im Dorf den Bühlers wie viel Geld geschuldet hat. «Wie abhängig fast alle Leute damals von einem Dorfkönig waren, habe ich so nicht gewusst», sagt Joris.

Ebenso sei deutlich geworden, wie wichtig die Verbindung der Eheleute war. «Ein solcher Gutshof funktionierte nur über die Partnerschaft von einem Mann und einer Frau. Manchmal auch Mutter-Sohn oder Vater-Tochter.»

Mit feinem Auge inszeniert

Vom Haus und seinen Gegenständen ausgehend, schildert das Buch die Geschichte seiner Bewohner, ihr Leben und ihre Zeit. Im Zentrum stehen die Bewohnerinnen. Rosmarie Bühler-Wildberger hat ihnen in ihrem Haus viel Platz gegeben.

Im Säli, wo die Gemälde hängen, sind die Porträts von Eheleuten stets nebeneinander, auf gleicher Höhe aufgereiht. Die Hausschuhe sind gleichberechtigt neben den Gewehren ausgestellt, das Nähzeug der Frauen neben den Orden der Männer. «Sie hat nie gewertet, wollte nur zeigen», sagt Historikerin Joris.

Keine Familiengeschichte. Kein In-Szene-Setzen einer Dynastie. Einfach Grossbauernleben auf dem Land aus drei Jahrhunderten, inszeniert mit feinem Auge. «Nicht die Gegenstände als solche, erst das Arrangement macht den wirklichen Wert der Sammlung aus.»

Eine schwierige Familie

Die geheimnisvolle Kuratorin Rosmarie Bühler-Wildberger ist die Hauptfigur im Buch. Aus Briefen und Urkunden haben Joris und Widmer versucht, ihre Geschichte nachzuzeichnen.

Wie sie als Sattlertochter aus einer ganz anderen, viel niedrigeren Schicht in die reiche Bühler-Familie eingeheiratet hat. In eine Familie allerdings, die längst aus der Zeit gefallen war, die in den 1960er-Jahren noch lebte wie im 19.  Jahrhundert. Mit einem alten Hauptmann als Familienoberhaupt, der mit Joppe und Hut seine Felder inspizierte. Mit einem Erben, ihrem Mann, der weder sein Nachfolger noch Unternehmer sein wollte, sondern am ehesten noch Tüftler. Wie sie hier drei Kinder grosszog, in einem Haus, dessen Grösse ihr Furcht einflösste. Genauso wie die grosse Vergangenheit der Familie Bühler, allgegenwärtig in all den Gegenständen, nutzlos geworden zwar, aber voller Bedeutung.

Überall Ordnung gemacht

Elisabeth Joris zeigt einen Zettel, der einer Mädchenpuppe beigelegt ist. «Bäbi Mirteli, gehört Hanna Boller», hat die letzte Hausherrin, gelernte Haushaltslehrerin, mit zierlicher Schrift darauf geschrieben. «Sie wollte wohl vor allem Ordnung schaffen. Ordnung im Haus, Ordnung in dieser unordentlich gewordenen Bühlerwelt, der sie sich nicht richtig zugehörig fühlte. Erst durch das Sammeln, das Ordnen und Pflegen all dieser Relikte aus 300 Jahren Leben hat sie für sich ihren Platz in dieser Familie und im Oberhaus gefunden.»

Stefan Bühler, der Sohn, schliesst sich dieser Deutung an. Die schiere Grösse der Sammlung, all die Zimmer voller Waren, eins nach dem anderen – ja, das könne Besucher erschlagen, manche vielleicht auch bedrücken. «Wenn die Mutter aber oben am Räumen war, zusammen mit dem Vater Listen geschrieben hat und wir ihr beim Möbeltragen geholfen haben, dann war sie befreit und glücklich.»

Mehr über das Haus der tausend Dinge

Das Buch dazu:

Jede Woche das Beste vom Beobachter
«Jede Woche das Beste vom Beobachter»
Raphael Brunner, Redaktor
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