Sonntagnachmittag in Luzern, Spaziergänger flanieren am Seeufer. Plötzlich bleiben ein paar stehen und beobachten wie gebannt die seltsamen Szenen auf der Wiese. Dort rennen gut zwei Dutzend junge Frauen und Männer durcheinander. Sie tragen Fussballschuhe, Knieschoner und Stirnbänder, einige Velohandschuhe und Mundschutz. Und alle haben einen Plastikstab.

«Harry Potter»-Fans ahnen schon, was hier gespielt wird – Quidditch. Auf dem Rasen absolviert die Schweizer Nationalmannschaft ein Vorbereitungstraining für die Weltmeisterschaft, die im Juni in Florenz stattfinden wird.

 

«Es ist eine sehr komplexe Mischung aus Völkerball, Rugby und Handball. Man braucht viel Ausdauer, ein gutes Ballgefühl und taktisches Geschick.»

Claudia Leuch, Präsidentin des Schweizer Quidditchverbands

 

In den «Harry Potter»-Romanen von Joanne K. Rowling spielen die angehenden Zauberer auf ihren fliegenden Besen Quidditch. Die Spielenden auf der Luzerner Ufschötti wirbeln natürlich nicht durch die Luft. Dafür haben sie ein Plastikrohr von rund einem Meter Länge zwischen den Oberschenkeln. Das halten sie mit einer Hand oder mit den Beinen fest, wobei sie sich nur eingeschränkt fortbewegen können. Je nachdem fangen oder werfen sie die Bälle ein- oder zweihändig.

Dabei geht es richtig zur Sache. Spieler mit schwarzen Stirnbändern packen Kunststoffbälle, Klatscher genannt, und versuchen, die Gegner zu treffen. Körper krachen gegeneinander, ein Sportler verliert den Plastikstab, eine andere fällt hart zu Boden. Plötzlich ruft ein Spieler «Blitz», sofort jagen seine Mitspieler dem Jäger mit dem weissen Stirnband nach. Der hat sich den Quaffel geschnappt, den gelb-blau gestreiften Volleyball, und rennt Richtung Torringe der gegnerischen Mannschaft.

In Norwegen entdeckt

Claudia Leuch aus Brugg AG hat sich längst daran gewöhnt, dass man ihre Sportart belächelt. «Das verschwindet schnell, sobald man mitspielt.» Die 25-Jährige ist Coach der Nationalmannschaft und Präsidentin des Schweizerischen Quidditchverbands. Die angehende Umweltingenieurin lernte das Spiel im Rahmen eines Austauschsemesters in Norwegen kennen und lieben. Nicht etwa weil sie ein «Harry Potter»-Fan wäre, sondern «weil ich es eine spannende Sportart finde». 

Warum denn? «Es ist eine sehr komplexe Mischung aus Völkerball, Rugby und Handball. Man braucht viel Ausdauer, ein gutes Ballgefühl und taktisches Geschick.» Zudem sei Quidditch der «einzige geschlechterintegrierte Vollkontaktsport».

Das Regelwerk umfasst 200 Seiten

Die Sportart zum Leben erweckt haben 2005 zwei Studenten aus dem US-Bundesstaat Vermont. Zu Beginn warfen sich die Spieler Handtücher als Umhänge über die Schultern, benutzten Wischmopps als Besen und Mülltonnen als Torringe. Heute ist das Spiel vor allem in den USA und in Australien verbreitet. Dank der International Quidditch Association (IQA), die das über 200-seitige Regelwerk herausgegeben hat, wird die Sportart nun professioneller.

Die IQA orientiert sich an der Version von «Harry Potter»-Autorin Joanne K. Rowling. Auf dem ovalen Spielfeld von 33 Metern Breite und 55 Metern Länge stehen sich zwei gemischte Teams mit jeweils sieben Spielern gegenüber. Drei sind Jäger, die den Quaffel durch die drei Torringe des gegnerischen Teams werfen müssen. Der Hüter versucht das zu verhindern. Hinzu kommen zwei Treiber, die Klatscher auf die Gegner schiessen. Wer getroffen wird, muss den Stab ablegen und beim eigenen Tor abklatschen, bevor er weiterspielen kann.

Zuschauer verlieren leicht die Übersicht. Da rennt ein Jäger Richtung Torringe, während seine Mitspieler versuchen, die Gegner abzuschiessen, gleichzeitig lassen sich zwei auswechseln, und einer rennt zurück zum Abklatschen. Kein Wunder, braucht es bei einem richtigen Turnier mehrere Schiedsrichter: Der Head-Ref konzentriert sich auf den Quaffel, zwei, drei Assistent-Refs behalten die Klatscher im Auge, und zwei Goal-Refs überwachen die Tore. Für einen Treffer gibt es zehn Punkte.

Quidditch ist anstrengend

Der grosse Moment kommt jeweils in der 18. Minute, wenn der goldene Schnatz (Golden Snitch) seinen grossen Auftritt hat. Für ihn braucht es einen eigenen Schnatz-Ref. Bei «Harry Potter» ist der Schnatz ein nussgrosser goldener Ball mit Flügeln, im realen Spiel hingegen ein Tennisball, der in einer Socke an den Shorts des Snitch-Runners – ein neutraler Spieler – hängt. Ab der 19. Minute kommt für jede Mannschaft zusätzlich ein Sucher auf das Feld. Wer den goldenen Schnatz fängt, erhält 30 Punkte für sein Team – und das Spiel ist aus.

Am Ufer des Vierwaldstättersees pfeift Schiedsrichterin Johanna Baumgartner ab. Pause! Die Spieler lassen sich auf den Rasen fallen, greifen zur Wasserflasche. Quidditch ist anstrengend. Statt Magie ist Knochenarbeit gefragt. «Weil wir nicht fliegen können, müssen wir halt rennen», sagt Marc Bast. Der ETH-Student spielt als Treiber. «Für diese Position muss man nicht nur fit, sondern auch taktisch gut sein und gezielt werfen können.» Und robust sein. Quidditch ist ein rabiates Spiel. Man darf den Gegner tackeln, ihn umklammern und zu Fall bringen. Und immer mal wieder stossen im Eifer des Gefechts die Spieler zusammen, stolpern oder verdrehen sich den Fuss.

Nächstes Ziel ist München

«Für zarte Pflänzchen ist Quidditch nichts», bestätigt Johanna Baumgartner. Die 17-jährige Gymnasiastin hat sich kürzlich die Bänder angerissen, deshalb fungiert sie heute als Schiedsrichterin. «Ich muss schon bald wieder fit sein.» Ende April will die Solothurnerin den aktuellen Schweizer Meister Turicum Thunderbirds am European Quidditch Cup in Pfaffenhofen bei München verstärken.

Muss man als Quidditch-Spielerin «Harry Potter»-Fan sein? «Nicht zwingend», meint Baumgartner. «Wir sind kein Klub von Fantasy-Freaks. Quidditch ist ein ernstzunehmender Sport und hat nichts mit Rollenspielen zu tun.» Sie war zwar ursprünglich auf der Suche nach einem «Harry Potter»-Fanklub. «Doch dann bin ich im Internet auf den Hägendörfer Klub gestossen.» Und dort ist sie seit eineinhalb Jahren Spielerin und Coach.

In der Schweiz ist Quidditch eine Randsportart. Rund 50 Leute – darunter viele Studenten – spielen in den fünf Klubs, dieses Jahr erstmals in einer Liga. Allerdings steht derzeit die Weltmeisterschaft in Italien im Fokus. «Ich würde unsere Chancen eher als bescheiden bezeichnen», sagt Claudia Leuch. «Die amerikanische und die australische Nationalmannschaft spielen in einer ganz anderen Liga.» Es gehe mehr ums Mitmachen. Doch sie glaubt, dass die WM-Teilnahme der Sportart in der Schweiz einen Schub geben werde.

Der grüne Rasen am Vierwaldstättersee ist mittlerweile von Löchern übersät, die Spieler sind hundemüde, ihre Fussballschuhe und Trikots voller Dreck. Es war fast wie im Film. Schade nur, dass die Spieler nicht fliegen können.

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Jasmine Helbling, Redaktorin
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