Im September 2001 stürmte ein Amokläufer den Zuger Kantonsratssaal und brachte 14 Menschen um. Der Attentäter war dem Beobachter bekannt, denn er versuchte zuvor wiederholt mit Briefen und Anrufen den Beobachter für seine Sache – den Kampf gegen die Behörden – zu gewinnen. Der damalige Berater Toni Wirz machte sich Gedanken, wie mit schwierigen Ratsuchenden umzugehen ist.
Nach dem «Tag des Zorns» folgen die Tage des Erklärens. Viele versuchen sich selbst und anderen zu erklären, warum das Schreckliche in Zug passieren konnte. Auch ich. Aber es bleibt unerklärlich. Unentschuldbar. Durch nichts zu rechtfertigen. Ich kann nur über die Frage schreiben, was das Schreckliche für mich und meine Arbeit hier beim Beobachter-Beratungszentrum bedeutet.
Am Beratungstelefon begegnen mir immer wieder Menschen mit schlimmen Lebensgeschichten und -situationen. Manche sind einsam und traurig, andere fühlen sich ohnmächtig und verzweifelt. Und hie und da gibt es auch solche, die wütend und rechthaberisch auftreten.
Manche dieser Menschen suchen die Gründe für das Unglück vor allem bei sich, verzehren sich in ihrem Kummer und richten die Wut gegen sich selbst und ihre nächsten Angehörigen. Andere machen ihre gesamte Umgebung und vor allem die «Oberen» für das erlittene Unrecht verantwortlich. Sie schimpfen und wüten am Telefon und auf Papier. Unter ihnen hat es Einzelne, die mir vorkommen wie wandelnde Zeitbomben.
Weshalb rufen diese Menschen beim Beobachter an? Sie tun es einfach. Es ist nicht so wichtig, weshalb. Was erwarten sie von mir? Das möchte ich zwar gerne wissen, frage aber meist nicht gleich am Anfang eines Gesprächs danach. Ich weiss, dass ich das, was dann kommt, fast immer zurückweisen müsste. Doch damit würde ich vielleicht eine Chance verpassen. Die Chance, dass dieser Mensch am Ende zu mir sagt: «Endlich hat mir wieder einmal jemand zugehört.» Das tönt nach wenig, hilft aber manchmal viel.
Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass der Mensch am Beratungstelefon dieses Erlebnis lange nicht mehr hatte. Es gibt Menschen in Schwierigkeiten, die irgendwann zu «schwierigen Menschen» werden. Freunde und Kollegen wenden sich von ihnen ab; Vorgesetzte fassen sich kurz; Amtspersonen, Behördenmitglieder und Richter gebärden sich obrigkeitlich. Es nervt, wenn so einer immer wieder «Geschichten macht». Man will sie nicht mehr hören, sich nicht mehr mit ihnen befassen.
Natürlich ist es auch für mich einfacher mit Menschen, die mit klaren Fragen und lösbaren Problemen kommen. Da kann ich entspannt aus meinem Expertenwissen schöpfen und Lösungen aufzeigen. Aber das Leben drinnen am Beobachter-Beratungstelefon spiegelt die Realität draussen. Und da leben auch Menschen mit Fragen und Problemen, für die es keine schnellen Antworten und einfach realisierbaren Lösungen gibt. So rufen eben auch diese Menschen bei mir an. Was tue ich mit ihnen?
Man muss die Leute ernst nehmen
Ich unterstütze keine Kämpfe gegen Windmühlen. Ich lasse mich nicht mitreissen von der Empörung gegen tatsächliche oder vermeintliche Gegner. Ich sage klar, was nach meiner Beurteilung möglich ist – und was nicht. Aber ich höre auch zu. Und ich versuche ernst zu nehmen, was ich höre. Ich mache mir klar, was für Gefühle mich bewegen gegenüber Menschen, die manchmal äusserst mühsam, anmassend oder auch beängstigend sind. Diese Klarheit schützt mich davor, sie einfach abzuweisen oder abzukanzeln.
Die Menschen, die anrufen, haben ein manchmal fast rührendes Vertrauen zum Beobachter und zu mir, dem Berater. Das erleichtert meine Aufgabe. Manchmal können sie mir folgen auf dem Weg zu einer etwas anderen Sicht der Dinge. Lassen sich überzeugen, dass die Gegenpartei auch respektable Beweggründe hat. Können plötzlich erkennen, wo ihr Anteil am Problem liegt. Überlegen mit mir, wo es Möglichkeiten der Konfliktlösung geben könnte.
Und selbst wenn gar nichts davon möglich ist: Manchmal reicht es eben schon, wenn ich die Geschichten dieser Menschen anhöre. Sie nicht bewerte oder zurückweise. Ihnen damit das Gefühl zurückgebe, dass diese Geschichten für sie wichtig und wahr sind. Und dass sie damit wieder kommen können – wenn es nötig sein sollte.
Damit wird das Schreckliche, das vielen dieser Geschichten anhaftet, zwar nicht aus der Welt geschafft. Aber die Menschen hinter diesen Geschichten kommen vielleicht wieder etwas besser damit zurecht. Und wir mit ihnen.