Manchen Kunden im Coiffeurgestühl würden die Haare zu Berge stehen, wenn sie wüssten, unter welchen Bedingungen die Angestellte arbeitet, die ihnen gerade einen neuen Schnitt verpasst. Vor allem Coiffeurlehrlinge haben oft wenig zu lachen: Viele erhalten alles andere als eine seriöse Ausbildung. Ihre Lehrmeister missbrauchen sie als billige Arbeitskräfte, die sich so ziemlich jede Schikane gefallen lassen müssen – vom respektlosen Umgangston bis hin zu sexueller Belästigung.

Lucie Gasser zum Beispiel (Name geändert), 20 Jahre alt, Coiffeur-Lehrtochter im dritten Lehrjahr. Sonderlich lehrreich war ihre Ausbildung nicht: «Im ersten Jahr verbrachte ich die Tage mehrheitlich damit, Böden zu putzen und Pflanzen abzustauben. Ausser Haarewaschen wurde mir nichts beigebracht.» Reich war die Zeit dafür an Schikanen. Der Tag, an dem sie beim Umbau des Lehrbetriebs mithalf, wurde ihr vom Ferienguthaben abgezogen.

Selbst schwer krank hätte sie nach Ansicht ihrer damaligen Chefin im Salon erscheinen müssen: Nach einem ärztlichen Dispens wegen einer Magen-Darm-Grippe schärfte ihr die Chefin ein, diese Erkrankung sei kein Grund, der Arbeit fernzubleiben. Die verblüfften Eltern liess die Chefin wissen, sie akzeptiere Arztzeugnisse künftig nur noch, wenn sie von ihrem persönlichen Vertrauensarzt stammten. «Lucie wurde so übel schikaniert, dass sie jeden Morgen unter Tränen zur Arbeit ging», erinnert sich Lucie Gassers Freund. Gasser wechselte die Lehrstelle, doch die Arbeitsbedingungen am neuen Ort waren nicht besser. Mittlerweile arbeitet sie in ihrem dritten Lehrbetrieb.

Oder Sabrina Sakic (Name geändert), Coiffeur-Lehrabgängerin, im Moment auf Stellensuche. Bevor ihr der Lehrbetrieb überhaupt eine Ausbildungsstelle gewährte, musste sie ein zehnmonatiges Praktikum für 150 Franken im Monat absolvieren. Ein dürftiger Lohn selbst für ein Praktikum, doch Sakic biss sich durch. «Ich war froh, hatte ich nach meinen Dutzenden von Bewerbungen eine Lehrstelle in Aussicht», sagt sie. «Ich dachte, mir würde endlich von Grund auf das Handwerk beigebracht.» Weit gefehlt.

Die Lehrtochter blieb weitgehend sich selbst überlassen. Niemand nahm sich viel Zeit, ihr Dinge zu erklären oder sie zu fördern. «Dafür kenne ich jeden Schrank in der Wohnung meines damaligen Chefs in- und auswendig», sagt sie. Denn dort musste sie jeweils zum Putzen antreten, wenn im Salon nicht viel los war. Zu protestieren habe sie sich nicht getraut, zu sehr habe sie gefürchtet, ihre Lehrstelle zu verlieren. Begehrte sie hin und wieder doch auf, kanzelte sie ihr Chef vor der ganzen Belegschaft als «frechen Jugo» ab.

«Der Chef fragte mich, ob ich mit ihm nach Hause komme, weil er etwas Spass haben wolle.»

Cécile Blättler (Name geändert), Lehrabgängerin

Überalterte oder zu junge Vorgesetzte

Pech mit ihrem Ausbildungsbetrieb hatte auch die heute 20-jährige Lehrabgängerin Cécile Blättler (Name geändert). Der Chef machte die Lehrtochter vor den Angestellten und der Kundschaft gerne zum Ziel anzüglicher Sprüche, verteilte ihr Klapse auf den Hintern und schickte ihr regelmässig SMS-Nachrichten schlüpfrigen Inhalts. «Ich bin kein Sensibelchen, ich halte eine Menge aus», sagt Blättler. «Aber als er mich fragte, ob ich mit ihm nach Hause komme, weil seine Verlobte gerade nicht da sei und er etwas Spass haben wolle, war das schon ziemlich happig.» Massnahmen ergriffen hat aber auch sie nicht: «Was sollte ich tun? Ich hatte lange genug nach einer Lehrstelle gesucht, ich wollte sie nicht verlieren.»

Guido Bechtiger, bei der Gewerkschaft Syna zuständig fürs Coiffeurgewerbe, kennt solche Geschichten zur Genüge. «Viele Coiffeurbetriebe sind Kleinunternehmen, und dort haben es die Lehrlinge zum Teil schwer», sagt er. «Es gibt dort keine Dienstwege und keine interne Stelle, an die sich die Jugendlichen bei Problemen wenden könnten.» Zudem seien die Vorgesetzten in Kleinbetrieben häufig entweder überaltert und hätten kaum je eine Weiterbildung absolviert, die sie befähigen würde, Lehrlingen viel beizubringen – oder dann seien sie sehr jung und überfordert mit der Leitung eines Betriebs.

«Das führt dazu, dass manche dieser Coiffeursalons in einem Lehrling eher eine billige Arbeitskraft sehen, die man den Boden aufnehmen und Kaffee servieren lässt – und nicht als jungen Menschen, den es auszubilden gilt», sagt Bechtiger. Und was tun die kantonalen Berufsbildungsämter, die die Lehrbetriebe beaufsichtigen sollten? «Sie drücken häufig zwei Augen zu. Sie sind froh um jeden Betrieb, der Ausbildungsplätze anbietet.»

Karger Mindestlohn: 3400 Franken

Das Coiffeurgewerbe mit seinen Arbeitsbedingungen ist ein Sorgenkind der Gewerkschaften. Nicht nur, was den Umgang mit Lehrlingen betrifft. Nach drei Jahren Unterbruch soll 2010 zwar wieder ein Gesamtarbeitsvertrag in Kraft treten, doch verglichen mit Verträgen anderer Branchen bietet er viel schlechtere Bedingungen: Der vereinbarte Mindestlohn beträgt gerade mal 3400 Franken, einen 13. Monatslohn gibt es nicht, gearbeitet wird wöchentlich 43 Stunden oder mehr.

Gewerkschafter Bechtiger führt das wenig arbeitnehmerfreundliche Klima im Coiffeurgewerbe auf die Struktur der Branche zurück. «In der Schweiz gibt es rund 9000 Coiffeurgeschäfte, davon haben etwa 3600 Angestellte», sagt er. «Viele haben zu wenig Kundschaft und rentieren nicht mehr richtig. Von dieser Seite kommt erbitterter Widerstand gegen alles, was Arbeitnehmern bessere Bedingungen bringen könnte.»

Für Kuno Giger, Präsident des Branchenverbands Coiffure Suisse, ist die Situation der Lehrlinge lange nicht so dramatisch, wie die Gewerkschaften sie darstellen. «Die Mehrheit der Lehrbetriebe bildet Jugendliche korrekt zu Coiffeuren aus», sagt er. Nicht zuletzt, weil der Verband vor drei Jahren das Ausbildungskonzept erneuert habe: Statt einer dreijährigen Ausbildung zum Herren- oder Damencoiffeur mit einer anschliessenden Zusatzausbildung von einem Jahr dauert die entsprechende Lehre heute nur noch drei Jahre. «Mit dieser Straffung wollten wir Leerläufe verhindern. Lehrlinge arbeiten nun rascher an Modellen und Kunden.»

Offenbar ist dieses neue Konzept noch nicht in allen Betrieben richtig angekommen. «Es gibt bestimmt schwarze Schafe», sagt Giger. Doch die seien für Jugendliche auf Lehrstellensuche leicht zu erkennen – durch eine Schnupperlehre. «Die Jugendlichen haben das Recht, einen Betrieb genau so zu prüfen, wie auch er sie prüft. Schnuppern sie ein paar Tage, merken sie schnell, wie ein Betrieb tickt. Wie ist die Atmosphäre? Zeigt man dem Schnupperlehrling etwas oder lässt man ihn nur herumstehen? Auf solche Dinge müssen die Jugendlichen achten.» Sicher ein guter Rat – aber nur, wenn man die Wahl hat.

«Ich traute meinen Ohren kaum»

Immerhin: Es gibt sie, die Coiffeurgeschäfte, die es mit der Ausbildung ihrer Lehrlinge ernst meinen. Das hat mittlerweile auch Lucie Gasser erfahren, die schon zweimal die Lehrstelle gewechselt hat, um dem Regime des jeweiligen Chefs zu entkommen. «Am ersten Tag in meinem jetzigen Lehrbetrieb traute ich meinen Ohren kaum: Auf einmal redete man anständig mit mir, niemand brüllte», sagt sie. «Ich kam sogar in ein internes Ausbildungsprogramm für Lehrlinge. Ich dachte: ‹Sieh an – so könnte es also auch sein.›»